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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M
Autoren: Bernd Ulbrich
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galt, folgte er mit dem Spürsinn eines Tieres der einmal eingeschlagenen Richtung. Sie hielten sich an der Hand, und über diese winzige, isolierte Berührungsfläche strömten ihre Lebensimpulse. In diese Einheit ein gingen die Energie von zwei Gehirnen, die Kraft zweier Herzen, die Ausdauer von vier Lungen. Zwei Augenpaare sahen für einen Organismus, vier Beine bewegten ihn vorwärts.
Sie bogen um einen keulenförmigen Stein. »Das ist es«, sagte Canabis.
Von einem kleinen, von Trümmern geräumten Platz umgeben, lag vor ihnen der kantige Klotz der Sonde. Auf dem Dach rotierte eine Parabolantenne.
»Das haben Menschen gebaut!«
»Natürlich«, erwiderte er. »Menschen.«
Nach zögerndem Schweigen wagte sie die Frage: »Wo sind sie?«
»Es handelt sich um eine unbemannte Station«, antwortete er.
»Woher weißt du das?«
Er sah sie unbeirrt an. »Ich habe die ganze Zeit mit ihm in Verbindung gestanden. Immer, wenn wir erwachten. Aber erst in diesem Augenblick ist es mir klargeworden.«
»Mit wem?« fragte sie, und ihre Frage klang weniger ungläubig als angsterfüllt. »Was ist dir klargeworden?«
Sein Gesicht hellte sich auf. »Es muß dich nicht beunruhigen. Ich kann es etwa so beschreiben: Immer, wenn ich erwachte, nahm ich an den Gedanken eines Unbekannten teil. Deutlicher kann ich es dir kaum machen, tut mir leid. Es waren Gedankenfetzen, Überlegungen zu kosmologischen und mathematischen Problemen. Erst dachte ich, es wäre etwas in mir selbst, eine Art von Schizophrenie. Ich kam dahinter, daß dem nicht so war. So etwas spürt man.« Als sei er erstaunt über sich, schüttelte er den Kopf. »Irrtum. Selbsttäuschung, nun ja. Die Verbindung hat offenbar immer nur einseitig funktioniert. Jedenfalls konnte ich nie eine Reaktion auf mich wahrnehmen. Jetzt habe ich den Verdacht, daß ich mich irrte. Ich verwandte viel Konzentration darauf, mich bemerkbar zu machen, denn ich vermutete in meinem Partner einen Menschen. Was mich erreichte, war nicht emotionslos. Er, das ist das denkende Zentrum dieser Station.«
Eine ungeheuerliche, beängstigende Frage, eine Antwort vielleicht, verschloß ihr Gesicht. Es erinnerte ihn an Darstellungen aus Kriegen und Katastrophen, an Menschen, die dem Tode ausgeliefert waren, an Momente vor dem Sterben, wo ein jeder mit sich allein ist. Er nahm sie in die Arme.
»Was«, flüsterte sie mit erstickter Stimme, »was spürst du jetzt? Will er uns helfen?«
Sie gingen an den übermannshohen Komplex heran. Er legte seine Hände gegen die Wand, tastete darüber hin, als erfühle er etwas Unsichtbares. »In seiner jüngsten Erinnerung existieren zwei Menschen. Ja, vor kurzem waren zwei Menschen hier.«
»Herrgott«, sagte sie, »sie sind weg? Wohin sind sie gegangen? Haben sie denn nichts von uns erfahren? Hat er ihnen nichts mitgeteilt?«
Canabis ließ die Hände sinken. Sein Helm lag an der Wand. Er stemmte sich dagegen, als wollte er sie so zum Einsturz bringen. Doch mit einer kraftlosen Wendung glitt er herum, lehnte sich, die Beine leicht eingeknickt, mit den Schultern an und ließ die Arme hängen. In dieser Haltung verharrte er wortlos.
»Sie sind fort?«
»Seitdem wir aus der Höhle heraus waren, spätestens seit diesem Zeitpunkt, hat er sich bemüht, die Verbindung zwischen ihnen und uns herzustellen. Aber er hatte keinen Auftrag dazu, und es stand ihm nicht genug Energie zur Verfügung. Das ist die Grenze seiner Autonomie, verstehst du. Er durfte sie nur begrenzt seinen eigentlichen Aufgaben entziehen.«
»Mit anderen Worten«, sagte sie ruhig, »sie wissen nichts von uns.«
Gehemmt von der Enge des Helms, wiegte er den Kopf. »Das trifft es offenbar nicht ganz. Sie haben schon etwas von unserer Existenz erfahren.«
Sie trat dicht an ihn heran, lehnte sich an ihn, und erst als sie abzurutschen drohte, brachte er die Kraft auf, sie zu halten.
»Sie können doch nicht einfach weggehen«, klagte sie. »Sie müssen doch warten. Was sind denn das für Menschen.«
Indem er sie fester hielt, erstickte er ihren leisen Schrei. »Sie haben es nicht in böser Absicht getan. Sie haben es wohl nicht begriffen. Sie haben nicht mit dem Unwahrscheinlichen gerechnet.«
»Vielleicht entschuldigst du sie zu Recht«, sagte sie müde und bitter, »vielleicht können wir ihnen wirklich keinen Vorwurf machen. Was sollen jetzt noch Vorwürfe?«
»Gibst du auf?« fragte Canabis. »Wir haben noch Ivens Zelle.«
»Wo sollten wir sie suchen?« entgegnete sie. »Es ist ein Aufschub, weiter nichts. Wir
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