Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht
Autoren: Thomas Ziegler
Vom Netzwerk:
merkwürdige Verwandtschaft zwischen dem Piloten und dem Düsenkopter ein.
    Vielleicht, dachte Gulf, vielleicht ist er in Wirklichkeit ein Automat, eine Menschenmaschine, wie sie von der IG Robot gebaut werden, ein mit PVC gepolsterter Computer aus den mikroelektronischen Laboratorien von Santiago oder Buenos Aires, mit deutscher Gründlichkeit programmiert, Made in Germany-America, direkt am Fuß der Anden, auf Feuerland gar. Vielleicht verbinden unsichtbare, feine Drähte aus gesponnener Glasfaser seine Zehen und sein Becken mit der elektronischen Innenwelt des Helikopters, und gut versteckt unter dem Braun der Pilotenhaut liegen Plastik, Chrom und Kugellager.
    Die Klette sprach wieder.
    Gulf und der Pilot hörten ihr schweigend zu.
    »Ich weiß, du willst mich vergessen. Ich weiß, dir ist es lieb, wenn die Vergangenheit ruht, aber so ist es nicht mehr, und es wird nie wieder so sein. Die Welt hat einen Quantensprung erlebt, und er wirkt nach und verschiebt die Grenze zwischen mir und dir. Das Sterben, Jakob, ist nicht mehr ein Abschied für immer, nur eine Veränderung in den Beziehungen. Die Sprache verbindet Diesseits und Jenseits, und die Worte sind Brücken in die Finsternis, wo ich jetzt bin, ohne zu sein, wo alle hingehen und niemals ankommen, und vor dem es keine Flucht gibt, weil die Flucht selbst zum Ziel führt. Gegen den Tod gibt es noch kein Mittel, doch das Schweigen ist besiegt. Du hörst mich, und du wirst mich immer hören …«
    Der Pilot sagte nichts, sah Gulf abwartend an.
    »Meine Frau«, sagte Gulf, obwohl es überflüssig war. »Sie ist tot. Sie ist vor vier Jahren gestorben.«
    »Dieser Unfall.« Der Pilot nickte bedächtig. »In Ihrer Jubiläumsshow, der hundertsten Sendung. Ich habe sie gesehen. Ich war dabei. Ich habe vor dem Bildschirm gesessen und das Feuer gesehen, das Feuer und den Rauch, und ich konnte das Benzin riechen, ich konnte es wahrhaftig riechen. Es war schrecklich, Mr. Gulf. Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.«
    »Es geschah nach dem Höhepunkt, nach diesen brillanten Farbaufnahmen vom Sturz der Atmosphäresurfer«, sagte Gulf gedankenverloren. »Die erste Liveübertragung aus dem Weltraum, von einem dieser Nachrichtensatelliten der ODESSA. Die ganze Nation verfolgte Champion Weinbergs waghalsigen Surfritt auf der Lufthülle der Erde. Erinnern Sie sich? An das Schwarz des Alls und das Blau, das strahlende Weiß der Welt? Und an Heinrich Weinberg, diesen Latinodeutschen, auf seinem Keramiksurfbrett, an das Glühen das Hitzeschilds, das fast geschmolzen wäre? Weinberg hatte Glück; die Reibungshitze hat ihn nicht zu Asche verbrannt. Aber Elizabeth …«
    Gulf schloß die Augen, nur um sie rasch wieder zu öffnen, denn da waren diese Bilder wieder, die Televisionen von brennendem Stoff und verkohlter Haut, der Gestank von gegrilltem Menschenfleisch, der beißende Benzingeruch und die Schreie, diese entsetzten Schreie, die nicht vom Applaustonband stammten, sondern von den Technikern und Kameraleuten im Studio.
    »Vier Jahre ist es jetzt her«, sagte Gulf. »Elizabeth ist seit vier Jahren tot, aber sie spricht noch immer. Diese Kletten … Sie sehen fast wie Fliegen aus. Sie verfolgen mich, und wenn sie mich finden, sprechen sie mit Elizabeths Stimme. Ich habe schon Dutzende von ihnen zerstört, aber es tauchen immer neue auf. Sie sind eine Plage, eine wahre Plage, und niemand kann etwas dagegen tun.«
    Er sah wieder nach draußen in den blauschwarzen Himmel, über den langsam ein Lichtpunkt wanderte: einer der Industriesatelliten des Andenpakts, deren Fertigbauteile vom Wernher-von-Braun-Raketenbahnhof in Guayana in die Umlaufbahn geschossen wurden. Ein Stahlnetz, das sich über die Erde stülpte. Eine weitere Erfindung dieser unmenschlich schlauen und tüchtigen Latinodeutschen, dachte er. Ein weiteres Produkt jenes Heeres aus Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Facharbeitern, die nach dem Krieg, im Großen Exodus, das besiegte Reich verlassen hatten, auf der Flucht vor Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit, um in Südamerika das Reich neu aufzubauen. Um unermüdlich zu arbeiten, tagein, tagaus trotz tropischer Sonne und schwüler Luft zu schuften, fern der Heimat, fern aller Erinnerungen an tausend Jahre falscher Pracht und Massenmord. Deutsche Weihnacht bei vierzig Grad im Schatten, der Duft von Lebkuchen, Christstollen und Lübecker Marzipan über Bogotá und Sao Paulo, Goethes Faust im Takt der Samba-Rhythmen und Deutschland, Deutschland über alles an den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher