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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht
Autoren: Thomas Ziegler
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du, Elizabeth? Wo bist du jetzt? Im Jenseits, das es nicht gibt? Im Hier und Jetzt, vor dem du geflohen bist, ohne dein Ziel zu erreichen?
    »Noch eine Stunde«, sagte Splitz in Gulfs Gedanken hinein. »Dann landen wir.«
    Gulf tastete nach dem Knopf an der Armlehne und stellte die Rückenlehne senkrecht. Er öffnete die Augen und sah direkt in Splitz’ Gesicht.
    Splitz war feist, und er schnaufte, wenn er sich bewegte. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, über den speckigen Wülsten der Augenhöhlen. »Noch eine Stunde«, wiederholte er schnaufend und schwitzend. »Wieder im Krautland! Und ich dachte, ich könnte dieses Gespensterland vergessen. Diese tausendjährigen Ruinen, zwischen denen alte Weiber nach Pilzen und verbotenen Kräutern suchen. Diese Ruinen – sie sind das eigentliche Problem. Zumindest Berlin hätte man wieder aufbauen müssen. Trotz der Bombe vom Februar ’45, die Hitler samt Führerbunker, Reichskanzlei und Regierungsviertel verbrannt hat. Kein Grund, Berlin auf ewig in Trümmern liegen zu lassen. Das war der Hauptfehler, glauben Sie mir. Alles hätten uns die Deutschen verziehen, den verlorenen Krieg, die Auflösung des Reiches, die Gebietsverluste, all die vielen Fabriken und Kraftwerke und Kohlengruben, die man gesprengt, abgerissen und unter Wasser gesetzt hat, die Maschinen, die nach Frankreich und Polen, England und Israel geschafft worden sind, sogar die Hungersnöte und den erzwungenen Exodus nach Südamerika hätten uns die Deutschen verziehen, aber nicht diese Sache mit Berlin. Berlin war mehr als nur eine Stadt. Berlin war Deutschland, und mehr noch: Eine Vision, ein Jahrhunderte alter Traum, und jetzt überwuchert Efeu die unbewohnten, verfallenen Gemäuer.«
    Gulf strich über sein zerzaustes, angegrautes Haar. Das Flugzeug schwankte, stampfte schwer durch eine Turbulenz und fing sich wieder. Draußen zuckte ein greller Blitz durch die aufgewühlten Wolken.
    »Und Berlin«, sagte Splitz, »war nur eine von ihren vielen Städten.«
    Er roch nach Rasierwasser und Wodka und dem Rauch seiner türkischen Zigaretten, einem herbsüßen Duft, der Gulf an Elizabeth erinnerte, an die herbe Süße ihres Haares im Halbdunkel des Schlafzimmers, an bewölkte Abende in New York, an ziellose Gespräche mit trunkenem Kopf und der kalten Betäubung des Kokains in der Nase. Splitz nippte an seinem Wodka-Lemon und sah mürrisch nach vorn, zu den schweigsamen Army-Offizieren und den CIA-Agenten, die mit griffbereiten Cassettenrecordern darauf warteten, daß Elizabeth wieder sprach.
    »Diese vielen Städte«, sagte Splitz. »Und jetzt wächst Gras und Unkraut auf den Straßen und Plätzen, und in den leeren Häusern nisten Eulen und Fledermäuse und Ratten. Vor allem Ratten. Diese Städte sind unheimliche Orte, lassen Sie sich das gesagt sein, Jakob. Eine Schande. Man hätte sie wenigstens planieren können. Radikal einebnen. Aber so sind sie unheimlich. Gespenstisch. Es war nicht recht, was Morgenthau getan hat. Wer noch nicht dort gewesen ist, kann sich nicht vorstellen, was diese Ruinenstädte aus einem Menschen machen. Besonders im Herbst, wenn das Grün verwelkt und das Laub von den Bäumen fällt und alles grau wird wie der Stein.«
    »Haben Sie damals auch Köln besucht?« fragte Gulf, und er versuchte sich Splitz in Uniform vorzustellen, aber statt dessen blitzten Szenen aus einem alten Propagandafilm in ihm auf: verschlagen grinsende Gestapo-Offiziere, preußische Generäle beim Hitlergruß und blutbefleckte SS-Männer in schwarzem Wams beim Meuchelmord.
    »München, ja, Frankfurt, Heidelberg, Weimar, Berlin …«, sagte Splitz. »Und Dresden. Ich erinnere mich vor allem an die Ratten und an die Katzen und an die wilden Hunde in den Ruinen. Und an die Hofkirche erinnere ich mich, an das große Loch im Dach des Kirchenschiffes und an den geborstenen Stumpf des Turmes. Dresden hätte etwas Besseres verdient gehabt. Es ist eine Schande.«
    »Wir müssen nach Köln«, sagte Gulf.
    »Ich weiß«, nickte Splitz.
    Er leerte sein Glas in einem Zug, schnaufend, schwitzend, mit düsterem Gesicht. Er war betrunken und bedrückt, und Gulf wußte, warum. Nicht wegen den toten Städten im Herzen Europas, den zerstörten Kulturdenkmälern und den von Wind und Wetter zernagten Gebäuden, in denen niemand mehr wohnte, den menschenleeren Straßen, auf denen jetzt Vergißmeinnicht, Hahnenfuß und Löwenzahn wuchsen … Elizabeth war für Splitz’ düstere Stimmung verantwortlich, Elizabeth, die niemand
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