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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht
Autoren: Thomas Ziegler
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tun, mit dem neugewonnenen Nationalgefühl der Deutschen, das nach der nationalistischen Raserei des Dritten Reiches Ausländer seltsam berühren mußte. Vielleicht konnte er nicht vergessen, was er früher am Abend unmittelbar am Brandenburger Tor gesehen hatte: Die jungen, schwarzgekleideten Männer mit den starren Gesichtern und den Fackeln in den Händen, wie sie durch das Tor marschiert waren und das Deutschlandlied gesungen hatten, die erste, verbotene Strophe, Deutschland, Deutschland über alles … Gespenster aus der Vergangenheit und dennoch so jung …
    Er fröstelte.
    Die Schatten, dachte er. Die langen Schatten der Vergangenheit. Sie liegen noch immer über diesem Land. Es ist wie in der Geschichte von dem kleinen Mann auf der Treppe: Er ist nicht da, aber er will auch nicht verschwinden.
    Er hob den Kopf und sah zu den schillernden Farbenspielen des Feuerwerks hinauf, wie sie verblaßten, wie sich einen Atemzug lang der Himmel verfinsterte, und etwas Kaltes streifte ihn, ein eisiger Luftzug oder eine eisige Hand, und über dem Krachen der Böllerschüsse und den hallenden Schlägen der Freiheitsglocke hörte er eine Stimme.
    Sie war ganz nah, diese Stimme.
    Sie sprach direkt an seinem Ohr.
    Sprach heiser, rauh und rostig aus den tiefen, langen Schatten der Vergangenheit: »Ihr kommt, um aus der kleinen Umwelt eures täglichen Lebenskampfes und eures Kampfes um Deutschland einmal das Gefühl zu bekommen: Nun sind wir beisammen, sind bei ihm und er bei uns, und wir sind jetzt Deutschland! Es ist etwas Wunderbares für mich, euer Führer sein zu können, und alles, was ich bin, bin ich nur durch euch allein …«
    Und von grausiger Angst erfüllt fuhr Gulf herum, aber da war nur die Nacht, nicht mehr, nur die Nacht. Er horchte, mit jagendem Herzschlag und Schweiß auf der Stirn, doch die Stimme sprach nicht mehr. Wenn sie je gesprochen hatte – außer in seiner Einbildung.
    »Was ist, Jakob?« fragte Elizabeth. »Was ist los mit dir?«
    Er rang sich ein Lächeln ab.
    »Nichts«, sagte er. »Es ist nichts.«
    Und er hoffte es.
    Er hoffte es.
    Für sich. Und für die Deutschen.

Nachbemerkung
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    Die im Text verwendeten Zitate von Hans Frank, Joseph Goebbels, Hermann Göring, Reinhard Heydrich, Heinrich Himmler, Adolf Hitler, Henry Morgenthau, Alfred Rosenberg und Baldur von Schirach sowie einige Zitate von Martin Bormann wurden folgenden Publikationen entnommen:
     
    Blum, John Morton: Deutschland ein Ackerland? (The Morgenthau Diaries. Years of War 1941-45), Düsseldorf 1968
     
    Fest, Joachim C: Das Gesicht des Dritten Reiches, München 1963
     
    Heiber, Helmut (Hrsg.): Goebbels Reden Band 1: 1932-1939, und Band 2: 1939-1945, Düsseldorf 1972
     
    Hitler, Adolf: Mein Kampf, München 1925/1927
     
    Lang, Jochen von: Der Sekretär. Martin Bormann, Stuttgart 1977
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