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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht
Autoren: Thomas Ziegler
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einzusetzen und genug Menschen und Waffen zur Verfügung zu stellen, um die Welt zu besiegen? Seid ihr dazu bereit?«
    Und die alten verrückten Männer schrien dem toten verrückten Doktor ihre Zustimmung und ihre Begeisterung entgegen, während sie wie toll tanzten, rasend in ihrem rauschhaften Wahn, gespenstisch wie der Tote selbst. Der Tisch erzitterte unter ihren Stößen, die schweren Sessel kippten. Bormann kreischte und geiferte, und Barbie brüllte sich die Seele aus dem Leib, und Mengele saß auf dem Boden und vergaß heiße Tränen, all die Tränen, die er den Toten von Auschwitz verweigert hatte, und die anderen sprangen wie toll umher, während sich Goebbels wie ein Egel an ihrer Tobsucht nährte und aus dem Dunkeln schrie:
    »Gelobt ihr mir mit heiligem Eid der Front, daß die Heimat mit starker, unerschütterlicher Moral hinter der Front steht und ihr alles geben wird, was sie zum Siege nötig hat? Und wollt ihr, daß auch die letzte Arbeitskraft auch der Frau der Kriegführung zur Verfügung gestellt wird und daß die Frau überall da, wo es nur möglich ist, einspringt, um Männer für die Front freizumachen? Wollt ihr das? Seid ihr damit einverstanden? Und billigt ihr, wenn nötig, die radikalsten Maßnahmen gegen alle Drückeberger und Schieber, die mitten im Kriege Frieden spielen wollen und die Not des Volkes zu eigensüchtigen Zwecken ausnutzen? Seid ihr damit einverstanden, daß, wer sich am Kriege vergeht, den Kopf verliert? Wollt ihr, daß, wie das nationalsozialistische Parteiprogramm das vorschreibt, gerade im Kriege gleiche Rechte und gleiche Pflichten vorherrschen, daß die Heimat die schwersten Belastungen des Krieges solidarisch auf ihre Schultern nimmt und daß sie für hoch und niedrig und arm und reich in gleicher Weise verteilt werden? Wollt ihr das? Ich frage: Wollt ihr das?« Und sie schrien berauscht und lüstern: »Ja, ja, ja!« und Goebbels raunte: »Denn wenn ihr das wollt, beschreiten wir den Weg zum endgültigen Sieg. Zum Sieg, der begründet liegt im Glauben an den Führer …«
    Seine Stimme verhallte und eine andere Stimme hob barsch zwischen den Marmorsäulen an: »Und so schwer es auch dem einzelnen fallen mag, es ist gut, daß er weiß, daß das Schicksal, das ihn trifft, Generationen vor ihm nicht anders getroffen hat, daß sich der einzelne diesem Leben theoretisch entziehen kann, daß er dadurch aber das Leid nur auf die anderen abbürdet. So schwer auch im Einzelfall die Last auf einem Manne liegen mag, er muß sich doch darüber klar sein, daß diese Last vor ihm zahllose Generationen und Millionen von Männern genauso zu tragen hatten und daß, wenn diese damals nicht bereit gewesen wären, die Last zu tragen, er heute überhaupt nicht in der Lage wäre, als Repräsentant seines Volkes zu kämpfen …«
    »Der Führer«, seufzte Martin Bormann und sah sich mit toten, gefrorenen Augen in der dämmrigen Halle um. »Es lebe Deutschland!« schrie der Greis. »Es lebe Adolf Hitler!«
    »Es lebe Deutschland«, brabbelte Barbie, während er auf dem Boden kroch und nach dem Silberdöschen voller Schnee suchte, mit dem er seine Seele wappnen wollte gegen die furchtbaren Schläge des Krieges. Und Mengele hob in tränennasser Verzückung die Arme und schluchzte: »Führer befiehl, wir folgen …« Und die anderen alten Männer keuchten und seufzten wie beim Liebesakt, während die Gespenster weiter zu ihnen sprachen, aus dem Nichts heraus der Welt furchtbare Vergeltung androhten für alles, was die Welt ihnen angetan hatte. »Sie beschimpft uns«, höhnte Goebbels, »weil sie uns haßt! Und sie haßt uns, weil sie uns fürchtet! Und sie fürchtet uns, weil sie uns kennt!«
    Ja, dachte Gulf fröstelnd, die Welt kennt euch und die Welt fürchtet euch, und sie hat allen Grund dazu … Also ist dies das Ende. Hitler hat Deutsch-Amerika erreicht, Goebbels spukt jetzt in den Anden, und es wird nicht mehr lange dauern, bis auch Göring und Himmler, Rosenberg und Frank und von Schirach ihre Stimmen erheben werden. Das Feuer der Atombombe hat den Führer verbrannt, aber es war nicht heiß genug, um ihn für immer aus der Welt der Lebenden zu verbannen. Bormann hat das Feuer mit Kälte bekämpft, mit vierzig Jahren Schneefall. Das ist es, was Elizabeth gemeint hat, als sie von der Minus-Welt sprach, in der es kein Leben gibt, kein Leben in unserem Sinne, weil sie das Land der Toten ist. Und wenn die Temperaturen in der wirklichen Welt fallen, wenn der Schnee die Seelen unter sich
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