Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht
Autoren: Thomas Ziegler
Vom Netzwerk:
all diese Omen wirklich bedeuteten, und wir wußten: Die Zeit ist gekommen, den alten heiligen Schwur zu erfüllen und das Reich von seinen Feinden zu befreien.«
    Mengeles Gesicht war von roten Flecken bedeckt und seine Augen glänzten wie im Fieberwahn. Er streckte die Hand aus und berührte Gulf: scheu, fast ehrfürchtig.
    »Sie können nicht ahnen, was es für uns bedeutet, Mr. Gulf. Selbst ich habe gezweifelt. Selbst ich habe geglaubt, daß der Führer irrte und die göttliche Vorsehung doch nicht auf unserer Seite stand, und nun ist alles so klar …! Wissen Sie«, sagte er leise und verschämt, »wissen Sie, daß ich geweint habe, wirklich und wahrhaftig geweint, als ich erfuhr, daß der Führer aus seinem Todesschlaf erwacht ist? Ich habe seit Jahrzehnten nicht mehr geweint, doch in dieser Stunde … Tränen der Freude und Tränen des Dankes, daß Sie uns geschickt worden sind und daß es doch noch Gerechtigkeit auf dieser Welt gibt, auch wenn wir vierzig Jahre darauf warten mußten, vierzig Jahre in der Diaspora.«
    »Geschickt?« wiederholte Gulf verständnislos. »Ich weiß nicht, was Sie meinen. Niemand hat mich geschickt. Sie haben mich geholt. Ich bin gegen meinen Willen hier.«
    »Vielleicht ist das ein Teil der Gnade«, lächelte Mengele. »Ein wundervoller Mechanismus, mit dem die Natur jene schützt, die die schwerste Last zu tragen haben. Und dennoch … es ist seltsam, daß ausgerechnet Sie der Auserwählte sind. Ein Amerikaner und keiner aus dem Schoß des deutschen Volkes.«
    »Was reden Sie da? Was wollen Sie …«
    »Begreifen Sie noch immer nicht? Sind Sie denn blind? Sie bringen die Auferstehung, die Auferstehung der Toten. Sie sind der Heiland, unser Heiland, der uns unseren Führer zurückbringt.«
    »O Gott!« keuchte Gulf. »Großer Gott!«
    »Wir lieben Sie«, fuhr Mengele fort, sanft und zärtlich, mit lüsternen Augen. »Wir lieben Sie für das, was Sie für uns getan haben, unwissentlich, unabsichtlich getan haben, und für den Sieg, der uns gehören wird. Der Endsieg …! Nach so vielen Jahren heim ins Reich …! Günzburg wiedersehen, den Rhein, Bayreuth, den Schwarzwald, Berlin, das sich größer und prächtiger als je zuvor aus den Ruinen erheben wird … Die Flotte ist schon nach Europa unterwegs. So viele Schiffe … Niemand wird es wagen, sich ihnen entgegenzustellen, nicht jetzt, wo unsere Feinde wissen, daß der Führer wieder bei uns ist. Und wenn sie sich in ihrem Größenwahn dennoch dazu versteigen sollten, den Weg zu unserer deutschen Küste zu versperren, werden wir sie auslöschen. Wir werden ihre Schiffe zum Meeresgrund hinunterschicken und ihre Flugzeuge vom Himmel holen und ihre Städte und Länder verbrennen. Das ist dann die Rache für Berlin und für Dresden und für Hamburg, für die Nürnberger Schandprozesse und die Vertreibung aus der deutschen Heimat. Der Führer … Mr. Gulf, bitte, rufen Sie ihn, lassen Sie mich den Führer hören! Ich bitte Sie, rufen Sie den Führer!«
    Mengele hatte seine Schulter gepackt und schüttelte ihn wie von Sinnen.
    »Ich muß ihn hören! Ich muß es! Sagen Sie ihm, daß ich es bin, Josef Mengele aus Günzburg, Lagerarzt von Auschwitz und Chef der Hygienisch-bakteriologischen Untersuchungsstelle der Waffen-SS Südost, Dr. Josef Mengele! Er kennt meinen Namen. Reichsschatzmeister Schwarz war ein Freund meines Vaters. Er hat den Führer 1932 nach Günzburg geholt, wo er seinen Deutschlandflug begann. Der Führer hat im Werk meines Vaters zu den Arbeitern gesprochen. Er wird wissen, wer ich bin. Sagen Sie ihm, daß ich ihn um ein Zeichen bitte, um ein einziges Wort, nur ein Wort, um mehr bitte ich nicht …!«
    »Er hört mich nicht«, schrie Gulf. »Ich kann ihn nicht herbeirufen, ich kann diese Gespenster nicht beschwören, begreifen Sie das doch endlich! Sie kommen und gehen, wie sie wollen.«
    Aber da wurde es dunkler im Wagen, und es wurde kühler, und eine dritte Stimme sprach, heiser, rauh und rostig: »Es kommt die Zeit, da jeder zu ringen haben wird zwischen dem Trieb der Selbsterhaltung und dem Mahnen der Pflicht. Auch mir blieb dieser Kampf nicht erspart. Immer, wenn der Tod auf Jagd war, versuchte ein unbestimmtes Etwas zu revoltieren, bemühte dann sich als Vernunft dem schwachen Körper vorzustellen und war aber doch nur die Feigheit, die unter solchen Verkleidungen den einzelnen zu umstricken versuchte. Ein schweres Ziehen und Warnen hub dann an, und nur der letzte Rest des Gewissens gab oft noch den Ausschlag. Je
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher