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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht
Autoren: Thomas Ziegler
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Doppelzüngigkeit, Mr. Gulf. Ich bin oft von Journalisten aus Ihrem Land gefragt und angeklagt worden, doch über die Bombe wollte keiner sprechen. Sie wollten nur hören, was es mit meinen Experimenten auf sich hatte. Bis ins kleinste Detail wollten sie alles über meine Experimente wissen, und sie haben alles notiert und in Millionenauflagen in den Staaten verbreitet. Mit Fotos von den Laboratorien und Krematorien, von mir und all den Toten … Es muß Ihren Landsleuten gefallen haben, denn die Journalisten kamen immer wieder.«
    Mengele lachte.
    »Aber lassen wir das. Sie waren im Reich. Erzählen Sie mir davon. Wie sieht es aus im alten Reich?«
    »Es erinnert an ein Massengrab.«
    Der KZ-Arzt lachte wieder. »Sie haben Humor. Ich bewundere Menschen, die in jeder Situation ihren Humor bewahren. Es hebt sie über das Niveau der Menschentiere.«
    »Wohin bringen Sie mich?« fragte Gulf.
    »Zu Martin Bormann. Ich sagte es bereits. Er wartet im Felsennest auf Sie – und auf den Führer.« Mengele zog ein silbernes Etui aus der Tasche, entnahm ihm eine Zigarette und zündete sie an. Seine Bewegungen waren glatt, geschmeidig, sicher. »Warum spricht der Führer nicht? Ich möchte ihn hören. Er soll etwas sagen.«
    Gulf zuckte die Schultern. »Sie überschätzen meinen Einfluß auf die Stimmen. Ich habe keine Kontrolle über sie. Sie sprechen, wenn es ihnen gefällt.«
    »So?« Mengele runzelte die Stirn. »Bedauerlich. Man sagte mir, daß es so ist, aber ich bin trotzdem enttäuscht. Ich war neugierig, wissen Sie. Ich habe ihn solange nicht mehr gehört … Wie ist es, wenn er spricht?«
    »Wie es ist? Sie wollen wissen, wie es ist, Adolf Hitler reden zu hören, ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod? Es ist abscheulich. Es ist abscheulicher als alles, was Sie sich vorstellen können.«
    Der KZ-Arzt seufzte und winkte ab. »Vergessen Sie’s. Sie sind Amerikaner. Sie können es nicht verstehen. Die deutsche Seele ist Ihnen fremd. Vielleicht liegt es an dem Völkergemisch in Ihrem Land. Zuviel unreines Blut.«
    »Und hier? Kein Völkergemisch?«
    »Wir achten darauf, daß die Rasse sauber bleibt. Aber lassen wir das. Ich habe schon vor langer Zeit festgestellt, daß Leute wie Sie nie begreifen werden, wie wichtig rassische Reinheit ist …« Mengele rauchte nachdenklich. »Alles andere führt nur in die Barbarei.«
    Gulf wollte darauf antworten und ihn an die wahre Barbarei erinnern, an die Barbarei des Massenmords und der Gaskammern, an die Männer, Frauen und Kinder, die ihre eigenen Gräber ausheben mußten, bevor man sie mit Zyklon B entlauste … So vieles lag ihm auf der Zunge, doch er schwieg, denn bloße Worte waren zu wenig.
    »Schade, daß Sie bei Ihrem Aufenthalt im Reich nicht Günzburg besucht haben«, murmelte Mengele. »Günzburg am Rand des Donau-Moos. Meine Heimatstadt. Sie steht noch immer. Sie war zu unbedeutend, um der Direktive JCS 1067 zum Opfer zu fallen – Sie wissen schon, die drei großen D, wie es damals hieß: Denazifizierung, Demilitarisierung, Demontage. Wäre Günzburg ein wenig größer gewesen, es sähe heute wie Köln aus. Oder wie München, Dresden, Magdeburg … Immerhin hat es die Landmaschinenfabrik meines Vaters getroffen. Sie wurde Stück für Stück demontiert und nach Israel geschafft. Und mein Vater – es hat ihn umgebracht. Herzinfarkt. Ich erinnere mich noch genau an den Tag im Sommer ’49. Ein heißer, schwüler Tag. Vom Pfarrhofplatz kommend, durchquerte ich die Ulmer Straße und erreichte den Stadtberg. Der Berg war voller Menschen. In den Seitenstraßen waren amerikanische Jeeps und Panzer aufgefahren, und mein Bruder Karl lief mir entgegen. ›Vater ist tot‹, rief er. ›Diese Schweinehunde reißen alles ab …‹ Kurz darauf verließ ich Günzburg. Schließlich war mein Name 1946, nach den Nürnberger Schandprozessen, auf Betreiben Polens und Jugoslawiens auf die Liste der Nazi-Verbrecher gesetzt worden. Aber mir ist nie etwas passiert.«
    »Sie hatten Freunde«, sagte Gulf. »Helfer.«
    »Wir alle hatten Helfer«, bestätigte Mengele. »Ich kam auf dem römischen Weg, über Italien und Spanien, nach Lateinamerika. Der Augsburger Weihbischof Eberle – der später nach Brasilien emigrierte und dort die Deutsche Kirche gründete – hatte alles organisiert. Zuerst ließ ich mich in Buenos Aires nieder, ging später nach Paraguay und traf dann in Peru Klaus Barbie. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Große Exodus längst begonnen, und in Lateinamerika gab es Millionen
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