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Dein Blut auf meinen Lippen

Dein Blut auf meinen Lippen

Titel: Dein Blut auf meinen Lippen
Autoren: Claudia Gabe
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    TRANSSILVANIEN, 1462
    Sechs Jahre lang hatte Vlad, der Pfähler, das transsilvanische Fürstentum Walachei mit seiner skrupellosen Schreckensherrschaft heimgesucht, die vierzigtausend Menschen das Leben kostete. Doch dafür war er nicht allein verantwortlich. Die einflussreichste Familie des Landes, der Vampir-Clan der Capulets, unterstützte sein mörderisches Wüten, indem sie Menschen, die als "unerwünschte Subjekte" galten, nach und nach auslöschten.
    Als Gegenleistung für ihre treuen Dienste schenkte der Fürst den Capulets ein imposantes Schloss im südlichen Teil der Karpaten, und alles, was sie sich sonst noch wünschten. So führten sie ein luxuriöses Doppelleben - tags als vornehme Aristokraten, nachts als Blutsauger. Sie stolzierten in prächtigen Roben und Juwelen umher und nannten sagenhafte Schätze ihr Eigen. Darüber hinaus besaßen sie übermenschliche Kräfte und waren unsterblich. Ihr Grundbesitz erstreckte sich über weite Teile des Landes, und ihre zahlreiche Dienerschaft las ihnen jeden Wunsch von den Lippen ab.
    Ein Capulet zu sein, bedeutete in jenen Tagen, bewundert und gefürchtet zu werden. Fragte man jedoch einen Montague, was er von ihnen hielt, hätte er gesagt, die Capulets seien Marionetten des Bösen, die es zu vernichten galt.
    Die Montagues hatten einen sechsten Sinn für das Aufspüren von Vampiren, und sie beherrschten alle Tricks, mit denen man diese Blutsauger unschädlich machen konnte. Sie nutzten jede Gelegenheit, um die Capulets zu bekämpfen und die Bevölkerung Transsilvaniens vor ihnen zu schützen. Die Welt von diesen Kreaturen zu befreien, war das erklärte Ziel der Montagues.
    Doch in jüngster Zeit hatten sich die Verhältnisse im Land geändert. Fürst Vladimir war vom Thron gestoßen und inhaftiert worden, und sein Halbbruder Radu hatte die Macht übernommen. Gleich nach Amtsantritt erließ er ein Friedensdekret und zwang die Montagues und Capulets, einen Waffenstillstand zu schließen.
    Aber können Erzfeinde wirklich Frieden schließen - vor allem dann, wenn eine der beiden Parteien aus so blutrünstigen Kreaturen wie den Capulets besteht?
    "Aus beider Feinde unheilvollem Schoß
Entspringt ein Liebespaar, unsternbedroht."

 
    Volk von Transsilvanien,
    da Vlad, der Pfähler, wegen seiner Verbrechen
    gegen die Menschlichkeit in Gefangenschaft genommen         wurde, ist die Ära seiner Schreckensherrschaft
    nunmehr offiziell beendet. Die neue Regierung hat mit         Vladimirs Helfern, den Capulets, einen Friedensvertrag geschlossen.
    Wer diesen Frieden bricht, indem er jemandem durch
    einen Akt der Gewalt Schaden zufügt oder ihn tötet,         bezahlt dafür mit seinem Leben - sei er Mensch oder
    Vampir.
    Möge die Einhaltung dieses ebenso einfachen wie         strikten Gesetzes unserem Königreich die Rückkehr zu         Ruhe und Ordnung bescheren!
    Fürst Radu

 

    Julia saß auf ihrem Bett und starrte in einen vergoldeten Handspiegel. Gedankenverloren berührte sie ihr Spiegelbild mit den Fingerspitzen und zeichnete die Konturen ihrer vollen Lippen, ihrer feingeschwungenen Nase und ihrer Brauen über den tiefblauen Augen nach.
    Sie war nicht eitel. Aber schon in drei Tagen würde es nicht mehr so einfach sein, im Spiegel zu prüfen, ob sich eine kastanienbraune Locke aus einem Haarkamm gelöst hatte. Genau genommen würde es unmöglich sein, denn Julia würde kein Spiegelbild mehr haben.
    "Das Kinn hoch, mein Fräulein!", hörte sie hinter sich eine Stimme. "Du weißt doch, dass man sich dann gleich viel gerader hält."
    Erschrocken zuckte Julia zusammen, denn sie hatte gedacht, sie sei allein in der Kammer. Dann legte sie den Spiegel in den Schoß und drehte sich zur Tür, wo ihre geliebte Amme in ihrem weißen Arbeitskittel und mit einer Haarbürste in der Hand stand.
    Julia seufzte. Sie wusste, dass die Amme gekommen war, um sie für den großen Ball herauszuputzen, den ihre Eltern heute Abend gaben. Lieber hätte sie sich in ihren Gemächern verkrochen, als in einem Saal voller Vampire und Fremder die wohlerzogene Tochter zu spielen - gerade jetzt, da alles so bedrückend war.
    "Ich habe andere Sorgen, als mich um meine Haltung zu kümmern", sagte sie und stand auf. Immer noch hielt sie den Elfenbeingriff des Spiegels in der Hand.
    Sie ging zur bleiverglasten Balkontür und schaute auf die schneebedeckten Berge, die Transsilvanien in der Ferne begrenzten. Als Kind hatte sie sich oft vorgestellt, wie
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