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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht
Autoren: Thomas Ziegler
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trägen Lehmfluten des Amazonas. Ein ganzer Ozean und ein halbes Jahrhundert lagen zwischen ihnen und dem Reich, und dennoch hatte jeder ein Stückchen Heimat in die Neue Welt hinübergerettet: eine Handvoll Auschwitz und Majdanek, einen Hauch Kraft durch Freude und einige vergilbte Seiten aus Mein Kampf.
    »Man kann die Kletten radikal beseitigen«, sagte der Pilot in das Schweigen hinein. »Ich kenne mich aus. Ich weiß, wovon ich spreche. Wir hatten Ende der Siebziger mit ihnen zu tun, im Kalten Krieg. Das Nazi-Pack hatte die Kletten über Mexico in die Staaten eingeschleust. Subversion, Propaganda, Sie wissen schon. Man kann die Kletten mit einem elektromagnetischen Impulsschock lahmlegen. Energiereiche Mikrowellenströme löschen ihre Datenspeicher. Wir haben Klettenfallen gebaut und entlang der Grenze aufgestellt. Ein Tongenerator hat die Kletten angelockt, Starkstrom sie verbrannt. Es gibt viele Möglichkeiten.«
    »Natürlich weiß ich das«, sagte Gulf, und fast hätte er über die Naivität des Piloten gelacht, der ihn über die Kletten aufklären wollte, ausgerechnet ihn, Jakob Gulf, den einzigen wirklichen Klettenexperten der Welt. »Ich weiß, wie man die Kletten beseitigt. Ich habe mich lange Zeit mit ihnen beschäftigt, sie studiert, zerlegt und analysiert. Wunderwerke der Mikrotechnik. Sie dringen überall ein, unsichtbar, unauffindbar, sehen alles, hören alles. Diese Kletten sind eine typische Nazi-Erfindung. In Technik kristallisierte Paranoia. Ganz Südamerika ist mit Paranoia infiziert. Man riecht sie schon, wenn man aus dem Flugzeug steigt, in Rio oder Caracas, und man sieht sie in den Augen der Menschen. Blaue Augen, in denen Wahn glitzert.« Diese Augen, erinnerte sich Gulf, und blondes Haar über den schwarzen Uniformen der schwerbewaffneten ODESSA-Männer, die die Straßen zu den Vierteln bewachten, die nur von den Reichsdeutschen betreten werden durften, nicht von den Latinos, für die die favelas gerade gut genug waren, die Gettos aus Wellblech und Abfall in den Außenbezirken der Städte, wo des Nachts die ODESSA auf Menschenjagd ging. »Ich habe die Klettenfabrik in Buenos Aires besucht«, fuhr er heiser fort. »In Germania habe ich mit dem Erfinder der Kletten gesprochen, Adolf Wachsmann, der Wernher von Braun bei der Weiterentwicklung der V-2 zur dreistufigen Thor- Rakete geholfen hat. Nach von Brauns Tod wurde er zum Raumfahrtdirektor des Andenpakts ernannt … Ich habe mich einen ganzen Tag mit Wachsmann unterhalten, und er hat mir das Adolf-Hitler-Denkmal in Germania gezeigt, das neue Denkmal, das von den Reichsdeutschen Traditionsvereinen gestiftet wurde. Ganze Schwärme dieser Kletten summen dort um die fünfzig Meter hohe Bronzestatue, und wenn man nähertritt, dann deklamieren sie ganze Abschnitte aus Mein Kampf.«
    Der Pilot lächelte grimmig. Unter dem Helmvisier war sein Mund ein dunkler Spalt. »Wir haben das Denkmal damals gesprengt«, sagte er. »Das alte Denkmal. Wir haben es in Stücke gesprengt, während des Kalten Krieges, und die Israelis haben fast zur gleichen Minute Eichmann erschossen, mitten auf dem Admiral-Dönitz-Platz in Bogotá.«
    »Aber da ist noch etwas, das ich bisher nicht erwähnt habe. Diese Kletten …«
    »Ja?« sagte der Pilot.
    »Nicht nur Elizabeths Stimme lebt in den Kletten weiter. Die Kletten sehen aus wie Fliegen, aber sie haben ein Gesicht. Es ist klein, sehr klein. Man braucht eine Lupe, um es zu erkennen, aber es ist Elizabeths Gesicht. Schmal und weiß, fast durchsichtig. Die Augen sind geschlossen, doch durch die Lider kann man die Farbe ihrer Augen erahnen. Rotbraun. Wie Ahornblätter im Herbst … Es war nicht ihr Tod, der mich so entsetzt hat«, sagte Gulf leise. »Nicht die Umstände und die furchtbare Art ihres Todes; es war die Tatsache, daß sie starb, ohne zu sterben. Elizabeth hat die Elektrischen Kletten programmiert und ausgesetzt, um selbst im Tod noch bei mir zu sein. Dieser Lebenswille, der sich auf keinem Friedhof begraben läßt … er hat mir Angst gemacht. Ich habe mich gefragt: Wie kann man an die Zukunft denken, wenn man sich zum Tod entschlossen hat?«
    Er sah wieder nach draußen. Die graue Wolkendecke unter ihnen war aufgerissen, und durch den Wasserdampfnebel erhaschte er einen Blick auf den fernen Erdboden, die zersiedelte Ostküste, die Metastasen der großen Städte, und am Horizont der schmutzige Strich des Atlantiks.
    Der New Yorker Henry-Morgenthau-Flughafen war nicht mehr weit.
    »Warum unternehmen Sie
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