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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht
Autoren: Thomas Ziegler
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alles Jüdische und Amerikanische und Bolschewistische, gegen die ganze Welt, so wie damals, aber heute haben sie die Bombe und Satelliten und Interkontinentalraketen, und es fehlt nur ein Funke, ein einziger Funke, und die Welt explodiert. Und wir haben sie damals noch zu Millionen nach Südamerika verschifft!«
    »Sie wären sonst verhungert«, sagte Gulf. »Zehn oder zwanzig Millionen Deutsche wären sonst verhungert. Der Große Exodus war ihre einzige Überlebenschance. Außerdem – man kann nicht Hunderttausende Facharbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler in Bauern und Viehzüchter verwandeln. Ihre Unzufriedenheit hätte sich irgendwann entladen. Es war der einzige Ausweg.
    Nur eines hat man nicht bedacht – daß selbst die Deutschen, die gegen die Nazis waren, Amerika zu hassen begannen, als der Morgenthau-Plan verwirklicht wurde. Selbst jene, die bei uns im Exil gelebt haben, kehrten uns den Rücken und wandten sich nach Süden.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich frage mich, wie weit wir heute wären, wenn wir dieses Potential hätten nutzen können. Von Braun, Heisenberg, Heidegger, Pinder, Sauerbruch, Hahn … Dieses wissenschaftliche Potential, das uns verlorenging …«
    »Und das die Latinodeutschen genutzt haben«, schnaufte Splitz. »Zumindest dies haben sie gelernt – daß die ideologische Knebelung der Wissenschaft im Dritten Reich zur Niederlage beigetragen hat. Wissen Sie, wer von den prominenten Nazi-Größen, die in Südamerika untergetaucht sind, die Kehrtwendung vollzogen hat? ›Arischer Realismus‹ nannte man das. Freiheit für die Wissenschaftler, solange sie sich um die Wissenschaft kümmern.«
    Gulf drehte sein Gesicht dem kühlen Luftzug aus dem Ventilator zu. »Bormann«, sagte er.
    »Martin Bormann«, nickte Splitz düster. »Er hat sich damals rechtzeitig aus dem Staub gemacht und den Führerbunker verlassen, bevor die Bombe fiel. Er hat alles überlebt – den Zusammenbruch, die Verhaftungswellen, die Hungersnot, den Großen Exodus, selbst die Jagdkommandos der Israelis. Bormann muß jetzt achtzig sein, und er sitzt in seinem Andenbunker und webt an dem Netz, in dem er die Welt fangen will.«
    Und Bormann, dachte Gulf, ist einer der Gründe für diesen Flug in das Gespensterland.
    »Vielleicht weiß Bormann schon, was in Köln geschehen ist«, fuhr Splitz unbehaglich fort. »Wir dürfen die ODESSA nicht unterschätzen. Sie hat hervorragende Verbindungen zum Nazi-Pack im Restreich und vor allem im Ruhrgebiet. Wenn Bormann von dem Zwischenfall in Köln erfährt, dann wird er ihn früher oder später benutzen, um seine Ziele zu erreichen.
    Das ist der Funke, Jakob«, sagte Splitz. »Und wenn wir ihn nicht rechtzeitig austreten …«
    Ja, durchfuhr es Gulf, dann kommt es wirklich zum Krieg, dann explodiert die Welt. Und, mein Gott, es paßt so gut zu diesem dumpfen Mystizismus der Latinodeutschen, diesem Sud aus Herrenmenschentum und göttlicher Vorsehung, Blut und Boden und Führerkult. Sie werden nach Köln pilgern, wie früher nach Bayreuth. Sie werden Fackeln tragen und Fahnen schwenken und wie damals verzückt und berauscht den Worten ihres Führers lauschen.
    »Wenn die Dämmerung anbricht«, murmelte Splitz, »wenn die Nacht sich über die Trümmer legt, dann hört man sie. Man hört sie so deutlich wie Elizabeth. In der Dunkelheit beginnen sie zu reden und zu zanken, um Fehler zu streiten und um Siege zu feilschen, an die seit Jahrzehnten niemand mehr denkt. Gespenster zwischen Ruinen, ruhelose Geister, die finster vor sich hinbrüten und über vertane Gelegenheiten schwatzen, Verrat und Hinterlist. Aus dem Zwielicht, den Wipfeln der Bäume, aus Gestrüpp und hohem Gras und aus dem schwarzen Gewölbe des Doms dringen ihre Stimmen.
    Hitler, Göring, Goebbels, Himmler, von Schirach … Mein Gott!« stieß Splitz hervor. »Wie lange werden wir es verheimlichen können? Die Regierung hat Angst. Sie hat furchtbare Angst. Sie weiß nicht, was dort geschieht und warum es geschieht, sie weiß nur, daß es zu einem Aufstand kommen wird, sobald sich die Nachricht verbreitet. Denn es wird einen Aufstand geben, im Restreich und in Deutsch-Amerika, wenn bekannt wird, daß es Hitler ist, der körperlos in den Trümmern von Köln haust und wie eh und je sein Gift verspritzt und haßerfüllte Drohungen ausstößt, gegen uns, gegen die Welt, und vor allem gegen Israel und die Juden …«
    Angst, dachte Gulf. Ja, die Regierung hat Angst.
    Er erinnerte sich.
    Er erinnerte sich genau. An
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