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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht
Autoren: Thomas Ziegler
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Ihnen die Flucht gelingt?«
    Gulf schüttelte den Kopf. Er dachte an Splitz, der im Flugzeug auf ihn wartete, an den Präsidenten, der soviel Hoffnung in ihn setzte, und an den General, der seine Hilfe brauchte, drüben in Europa, in diesem absurden Gespensterreich mit seinen Trümmerstädten, längst von Gras und Wildkraut überwuchert, seinen Dörfern und Einödhöfen, verteilt über das ganze Land.
    »Flucht?« wiederholte Gulf. »Es gibt keine Flucht. Nicht vor Elizabeth. Seit vier Jahren ist sie tot und vermodert, aber ihre Seele klammert sich noch immer an die Kletten. Der Quantensprung. Sie haben gehört, was sie gesagt hat. Es hat einen Quantensprung gegeben, und seitdem sind die Dinge verändert. Nichts ist mehr so, wie es früher war, und ich bin nicht der einzige, der es zu spüren bekommt.« Er atmete tief durch. »Verstehen Sie? Ich bin nicht der einzige. Es gibt andere Elizabeths; sie sind wie sie, aber sie tragen andere Namen und starben an anderen Orten, um dann doch weiterzuleben und zu reden, immer nur zu reden, statt tot und still zu sein. Vielleicht gibt es eine Verbindung. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit zur Verständigung, einen Weg, um sie zum Schweigen zu bringen …«
    Gulf verstummte.
    Durch das tiefe Brummen der Rotoren drang die Stimme der Klette an sein Ohr.
    »Ich liebe dich, Jakob«, sagte Elizabeth. »Ich liebe dich und ich werde dich immer lieben, ich werde bei dir bleiben und dir meine Liebe zeigen. Du hörst mich und du haßt mich und du wirst mich nicht mehr los. Selbst der Tod ist keine Flucht, denn wenn du stirbst, dann kommst du zu mir, dann bist du hier, wo nichts ist und nie etwas war, wo ich bin, ohne zu sein, wo niemand wohnt und alle heimkehren. Ich werde bei dir sein, wie ich immer hätte bei dir sein sollen, in den wenigen Jahren, diesen kurzen Jahren … Weißt du noch, Jakob, weißt du noch von diesem Frühling, diesem ersten Frühling, diesem einzigen Frühling, der uns gehörte, nur uns allein, am leeren Strand im frischen Wind? Der Wind sprach mit dir und du hast genickt, und ich kannte seine Worte: Wann ist sie endlich stumm und tot und wächsern bleich im Abendrot? …«
    Gulf sah aus dem Fenster.
    Unter ihnen tauchten die ersten Positionslichter des Henry-Morgenthau-Flughafens auf. Der Abend verdämmerte, die Nacht begann. Gulf fragte sich, was der nächste Tag bringen würde, sein erster Tag im alten Reich, im Land der Bauern und Viehzüchter.

2
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Der Schlaf
hatte ihn
nicht erfrischt;
im Gegenteil,
er hatte ihn
müder gemacht,
    lebensmüde, sterbenskrank, und als die Spinnweben seiner Träume zerrissen, da verstand er plötzlich, was geschah, mit ihm geschah. Das ist es, dachte er von grausiger Angst erfüllt, das ist das Sterben, das ist der Tod, aber kein Tod, wie wir ihn kennen. Kein kalter Schrecken, kein Totengeläut, kein Pfaffe, der uns von der Kirchenkanzel Trost zuspricht. Kein Tod wie der Tod im herbstlichen Frostlicht, im Wind, der über Grabsteine und Gräber pfeift und die schwarze Witwentracht bauscht, das fadenscheinige, abgewetzte Schwarz ungezählter Generationen. Kein Tod mit festlichem Leichenschmaus, schamlos erfundenen Ruhmesworten auf faulendes Fleisch und verrottende Knochen, Heucheleien bei Schweinebraten und Bier, Pflaumenkompott und Kirschtorte … Nichts hat der wahre Tod damit zu tun, rein gar nichts.
    Das wahre Sterben, erkannte Gulf, das wirkliche Sterben ist ein schleichender Prozeß. Der Tod ist nur der Abschluß eines Geschehens, das schon lange zuvor begonnen hat. Die Kirche irrt. Die Seele ist nicht unsterblich. Sie ist das schwächste Glied des Lebens, und wenn das Sterben beginnt, dann dämmert sie zuerst dahin, unbemerkt und heimlich, dann löst sie sich auf, Stück für Stück, erfriert, erstarrt in zeitloser Leere, bis die Leere alles ist, was noch bleibt. Erst dann legt sich das Fleisch zum letzten Schlaf in dunkle Erde. Der Abschied am Grab kommt viel zu spät; die Tür ist längst geschlossen, die Lichter sind gelöscht, der letzte Gruß verhallt ungehört im Nichts.
    Mein Gott, dachte er, jetzt weiß ich, was dir zugestoßen ist, Elizabeth. Das Feuer … es hat dich nicht umgebracht, nicht wirklich, es hat nur deinen Körper verzehrt, unbewohntes Fleisch, von der Seele längst verlassen, dahinvegetierend an einem Ort, wo es schon längst nicht mehr hingehörte. Aber was bist du dann, wenn du Seele und Körper gleichermaßen verloren hast? Welcher Teil von dir weigert sich, den Tod zu akzeptieren? Und wo bist
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