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Still und starr ruht der Tod

Still und starr ruht der Tod

Titel: Still und starr ruht der Tod
Autoren: Friederike Schmoee
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Vierteljahrhunderts war eine einzige Misere. Jean-Claude hatte ihr am 31. Oktober eröffnet, dass er ein Kind mit einer anderen bekam. Er war 45, und sie hätte ihn am liebsten umgebracht.
    Noch mal ein Kind. Für Jean-Claude und seine Neue bedeutete es noch mal ein neues Leben, eine Zukunft, während der Lebensabschnitt, in dem man sich um Kinder kümmerte und sie aufwachsen sah, für Simone definitiv zu Ende war. Sie fühlte sich ausrangiert. Alt. Sie litt. Das Haar fiel ihr aus. Das dicke, honigblonde Haar, das zu tönen sie sich weigerte. Das ihr in vollen, geraden Strähnen bis knapp auf die Schulter reichte. Sie musste es abschneiden. Der Friseurbesuch war der eigentliche Einschnitt. Simone musste schmunzeln, als ihr das Wortspiel auffiel. Seit Jahren hatte sie nicht mehr auf Deutsch gedacht. Nur auf Kommando, auf Wunsch, um es zu probieren. Sie dachte auf Französisch, träumte auf Französisch und manchmal geschah es, dass ihr ein deutsches Wort nicht mehr einfiel.
    »Das Haar wächst schon nach«, hatte Rocco sie getröstet. Als Friseur war er an ganz andere Dramen gewöhnt. Krebsglatzen, Brandwunden, er hatte in Erinnerungen geschwelgt. »Haarausfall aus Kummer, das passiert eben, Madame, das kommt in den besten Familien vor. Nach einem Jahr, Sie werden sehen, haben Sie den Kerl vergessen!«
    Der Kerl. Er war 20 Jahre lang ihr Ehemann gewesen. Sie hatte viel investiert. Ihm hinterhergeräumt, seine arrogante Familie ertragen, seine wichtigtuerische Schwester, seinen dominanten Vater, mit dem Jean-Claude beinahe jeden Abend telefonierte. Seine Mutter Irène, na gut, die war ein bisschen durchgedreht. Im guten Sinn. Sie hätte perfekt in das Paris der 20er Jahre gepasst. Mit ihren langen Ohrhängern, den schmal geschnittenen Kleidern und dem Pagenkopf, einer Frisur, von der sie auch im Alter nicht abrückte. Simones Schwiegermutter war nie ein Familientier gewesen, hielt sich bei Treffen abseits, ein wenig spöttisch, ein wenig ironisch, immer mit einem Schmunzeln in den Mundwinkeln und einer Zigarette in der Hand, in einer Zigarettenspitze natürlich. Irène. Simone lächelte in Erinnerung an ihre Schwiegermutter. Irène war cooler, lässiger, entspannter als alle anderen in der Familie Mathieu. Cooler als Simone, das auf alle Fälle. Für Natalie war sie nie die typische Großmutter gewesen. Natalie hatte unter Irènes Aufsicht ihre erste Zigarette geraucht. Und ihren ersten Joint. Eine Großmutter brachte der Enkelin das Kiffen bei, das musste man sich mal vorstellen. Irène war der Meinung, es wäre besser, Natalie probierte es in ihrem Beisein als in Begleitung eines Kerls, in dem die Hormone brodelten.
    Vor zwei Jahren war Irène gestorben. Ein Schlaganfall. Ganz plötzlich, als sie am Flughafen in Marseille den Zubringerbus nach Aix besteigen wollte. Sie setzte ihren Fuß auf die unterste Stufe – und war tot.
    Ein Ableben, wie es zu Irène passte. Danach musste die Familie Mathieu feststellen, dass Irène mit ihrer Nonchalance die Familie zusammengehalten hatte. Die einzelnen Familienmitglieder davor bewahrt hatte, einander an die Gurgel zu gehen. Obwohl sie immer betont hatte, wie wenig sie sich als Familienmensch sah. Simone stiegen die Tränen in die Augen, als sie an Irène dachte. Sie umfasste den Becher mit dem Glühwein fester. Ihr Blick kletterte die beleuchteten Fassaden der Häuser an der Oberen Brücke hinauf. Bamberg hatte sich gemausert. Es gab jetzt so etwas wie eine Szene . Ein paar buntere, kreativere Leute als damals, als sie mit dem Studium angefangen hatte. Simone kam gar nicht nach, die vielen neuen Cafés und kleinen Läden durchzutesten, die rund um das Alte Rathaus, in der Sandstraße und auf der Seite der früheren Bürgerstadt aus dem Boden gewachsen waren. Einzelne Straßen waren zu Kreativmeilen geworden. Sogar die Weihnachtsbeleuchtung in diesen Ecken und Winkeln wirkte witziger als die Behänge aus Glühbirnen mit Grünzeug, die traditionsgemäß im Auftrag der Stadt installiert wurden. Simone fragte sich, ob man in der Zeitung immer noch die aufregende Information lesen konnte, wie teuer jedes Weihnachten die Illumination der Innenstadt im Vergleich zum Vorjahr kam. Trotz aller Veränderung war eines gleich geblieben: Auf dem Weihnachtsmarkt konnte man 2012 das gleiche Kleinzeug kaufen wie seit Menschengedenken.
    Vielleicht gar nicht dumm, dachte Simone. Derartig unwichtige Dinge vermittelten einem das Gefühl von Stabilität, die es im Leben in Wahrheit nicht gab. Nach
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