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Stiefkinder der Sonne

Stiefkinder der Sonne

Titel: Stiefkinder der Sonne
Autoren: Edmund Cooper
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ihm folgten, fingerten nervös an ihren Gewehren herum. Sie hatten den GK schon lange nicht mehr lachen gehört, und sie konnten sich nicht darüber klarwerden, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
    Der Morgennebel hatte sich schon verflüchtigt. Greville stand auf der mit Gras und Moos überwachsenen Straße und schaute auf die Chelsea-Brücke, die zwanzig Yards vor ihm lag. Dann drehte er sich zu den beiden Männer um, die ihm gefolgt waren.
    „Ihr bleibt hier stehen. Ich mache einen kurzen Spaziergang über die Brücke. In ein paar Minuten bin ich wieder zurück.“
    „Sir, ich bitte um Redeerlaubnis.“
    „Erteilt.“ In Grevilles Stimme klang ein Ärger mit, der für den Mann, der gerade gesprochen hatte, Übles bedeutete.
    „Sir, wir sollen Sie eigentlich beschützen“, sprach er verzweifelt weiter. „Wenn wir hierbleiben, können wir unsere Pflicht nicht erfüllen.“
    „Auf der Brücke braucht ihr mich nicht zu beschützen, und auf die andere Seite gehe ich nicht.“
    Greville drehte sich um, um weiteren Argumenten auszuweichen.
    Also wirklich! Sie behandelten ihn, als sei er ein kleines Kind. Mit der Disziplin hier würde er etwas unternehmen müssen. Er konnte sich heutzutage kaum bewegen, ohne über einen Idioten zu stolpern, der bis an die Zähne bewaffnet war und es gut mit ihm meinte.
    Er ging langsam auf die Brücke.
    Er sah über die Seite hinunter.
    Er war voll von kindlichem Vergnügen.
    Die Themse war blau.
    Ein blauer Fluß! In den letzten zwanzig Jahren hatte er viele blaue Flüsse gesehen, aber er hatte irgendwie nie erwartet, daß auch die Themse wieder blau werden könnte. Was sollte sie aber andererseits sonst machen, wenn sie fast vierzig Jahre lang von jeglicher industrieller Verschmutzung frei war?
    Er war verblüfft und verzaubert.
    Greville wandte seine Aufmerksamkeit der Brücke zu. Sie war am Verrotten.
    Die Tragekabel waren mit Rost überzogen, und die Vertikalkabel ebenso. Er bezweifelte sehr stark, daß sie noch weitere zehn Jahre halten würde …
    Eine Stimme, vertraut, aber unerkannt, kam aus dem Nichts und flüsterte ihm ins Ohr: „Liebe jemanden … Baue etwas auf.“
    Dann plötzlich stürzte die Vergangenheit über ihm zusammen.
    Er erinnerte sich an diese Nacht mit Pauline. Die Katze, die er überfahren hatte, und dann die wachsende Spannung zwischen ihnen, die dann in dem Unfall gipfelte. Er erinnerte sich an Liz, wie sie im trüben Licht der Dämmerung dagestanden hatte – ein Mädchen in einem verwaschenen blauen Hemd und einer Männerhose, die ihr zwei Nummern zu groß war. Er erinnerte sich an die Hunde …
    Am deutlichsten jedoch erinnerte er sich an zwei Gesichter. Paulines Gesicht, tot und schön, Liz’ Gesicht, lebendig und unschuldig, blaß und zerschunden.
    Das war alles so sehr lange her. So unendlich lange her. Pauline gehörte in eine andere Welt, aber Liz gehörte nur in eine andere Zeit.
    Und doch … Und doch gehörten sie in jene andere Welt.
    So viel war geschehen …
    So viel Merkwürdiges und Entsetzliches. So viel Warmes und Intimes …
    Nun wurde eine neue Welt geboren – eine Welt, in der die Älteren, die Transies, mit einer Mischung aus Belustigung und Zuneigung und Angst behandelt wurden, während die jüngeren Leute, fest von ihrer geistigen Gesundheit und allgemeinen Robustheit überzeugt, mit Träumen von neuen Kulturen, neuen Weltreichen, neuen Systemen, neuen goldenen Zeitaltern beschäftigt waren.
    All dies, dachte Greville, war auf eine traurige Art lustig. All dies war wie Tschaikowskys Ouvertüre zu „1812“, voller Pomp und Getöse, aber ohne Bedeutung.
    Ich bin ein alter Mann, dachte er. Ich habe siebenundsechzig Jahre lang gelebt, und jetzt bin ich ein Greis. Wie es aussieht, habe ich zweihundert Männer nach London geführt, nur damit ich dort ein Rendezvous mit meinen Erinnerungen einhalten kann. Man sollte mich erschießen …
    Als die Kugel ihn traf, dachte er, daß dies wohl der beste Witz aller Zeiten sei. Er konnte nicht so recht daran glauben, aber sehr komisch war es trotzdem. Er sah sich den Fleck an, der sich rot auf seiner schönen Uniform ausbreitete, und er war verblüfft davon.
    Die erste Kugel traf ihn im Magen.
    Die zweite Kugel zerschmetterte ihm das Handgelenk.
    Die dritte Kugel brach ihm ein Bein.
    Er fiel zu Boden.
    Er hörte das Geräusch von automatischen Gewehren, als seine beiden Wachen zu ihm rannten und dabei blind über die Brücke schossen. Sie erreichten ihn nicht, denn auch der
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