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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Autoren: Wolfgang Brenner
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Euphorie. Man sah wieder weniger Kollegen mit Kokarden an den Revers im Flur herumstolzieren.
     Es wurden auch keine Siegesfeiern mehr nach Feierabend veranstaltet, bei denen es zwar kaum etwas zu essen oder zu trinken
     gab, die sonst so hölzernen Beamten sich aber mit vor Eifer hochroten Köpfen umarmten. Den Waffenstillstand vom 28.   Januar 1871 hatte man dann mit Gelassenheit quittiert – ohne offene Wut oder Verbitterung, aber mit stiller Erleichterung
     darüber, daß es nun vorbei war.
    Als nun – kurz vor dem Fall der Hauptstadt – die Republikaner im Magistrat von Reims den Maire seines Amtes enthoben, baten
     die edlen Frauen und die dem Adel wohlgesonnene Witwe ihre Einquartierung um Hilfe. So soll der als Präfekt eingesetzte Herr
     Stieber aus Berlin dem alten Maire per Dekret einfach die Rückkehr in sein Amt mit dem Hinweis befohlen haben, Ereignisse
     in Paris hätten keinen Einfluß auf die von ihm geschützten Machtverhältnisse in Reims. Der Adel von Reims war begeistert von
     dieser Hilfe – vor allem als jener famose Herr Stieber mit der preußischen Feldpolizei die Republikaner aus der Stadt jagte.
     Danach wandten sich nach diesem Vorbild überall in Frankreich die konservativen Kräfte an die Besatzer und baten um Hilfe
     gegen ihre aufmüpfigen Landsleute – eine Allianz, die selbst dem gemäßigten Lamartine äußerst schäbig vorkam, obwohl er die
     neuerdings in Paris aufkommende Revolutionsstimmung unter den einfachen Leuten mißbilligte.
    Der Feind, der in die Waffenstillstandsvereinbarung hineindiktierthatte, daß das geschlagene Frankreich alle Kriegskosten zahlen und zudem noch Lamartines Heimat, Elsaß-Lothringen, an die
     Deutschen abtreten sollte, schoß im Auftrag von Franzosen auf Franzosen. Lamartine spürte, wie sein Blutdruck vor Empörung
     stieg, und er hätte gerne um eine Tasse vom Pfefferminztee der Schwiegermutter gebeten, aber er wollte der Alten keinen Anlaß
     geben, ihn zu demütigen, indem sie ihn mit dem Hinweis auf seine Verspätung diesen kleinen Dienst verweigerte.
    Lamartine legte die Zeitung weg und sah aus dem Fenster in die Nacht. Die Pariser saßen in ihren ungeheizten Kammern und hofften,
     daß die Deutschen nicht mit Requirierungsanweisungen an die Tür klopften. Die Frauen und Mädchen ließen die Preußen ja in
     Ruhe – es herrschte in dieser Hinsicht Disziplin in der Truppe. Dafür nahmen sie sich sonst alles, was sie kriegen konnten,
     mit dem bürokratischen Flankenschutz, der der Willkür einen Anstrich von Legalität gab. Es stand schlecht um sein Land, fand
     Lamartine.
    Plötzlich fiel ihm der Tote aus dem Bois de Boulogne wieder ein.
    Was hatte es eigentlich für einen Sinn, nach den Mördern dieses Menschen zu fahnden? Um ihn herum ging die Welt unter, und
     er sollte seine Tage damit verbringen, die Umstände des Todes einer Alkoholleiche zu ermitteln.
    Der Inspektor empfand seine Arbeit schon lange als absurd. Er hatte das Gefühl, daß das Morden unter den Menschen niemals
     ein Ende nehmen würde, ja, daß die Menschen immer mehr mordeten. Das Morden war wie eine Krankheit, die sich stetig verschlimmerte.
     Bald würden sie sich nicht mehr mit Totschlagen zufrieden geben, sie würden Möglichkeiten ersinnen, wie man immer mehr Menschen
     mit immer weniger Aufwand umbringen konnte. Was für einen Zweck hatten da kriminalpolizeiliche Ermittlungen?
    Er sah es Tag für Tag, er verhörte viele Mörder. Es waren fast immer ganz normale Menschen, keine Monster. Und wennsich Mörder als normale Menschen erwiesen, so mußten normale Menschen auch ohne weiteres zu Mördern werden können. Die Barbarei
     der Deutschen, die über Monate hinweg aus vollen Rohren in eine dicht besiedelte Großstadt hineinschossen, in der es kaum
     noch reguläre Truppen gab, bestätigte Lamartines Ansicht.
    Wer konnte einen Grund haben, den Mann mit der Champagnerflasche zu ermorden? Brauchte der Mörder überhaupt einen Grund? Hatte
     er es aus einer Laune heraus getan? Oder hatte er sich verteidigen müssen, weil der Mann mit der Champagnerflasche ihn sonst
     umgebracht hätte? Nach Lamartines Erfahrung war das eine der häufigsten Ursachen für Morde.
    Im Flur rumpelte es. Die Tür wurde aufgestoßen, die Schwiegermutter trat ins dunkle Zimmer. »Was sitzt du hier und grübelst?
     Deine Frau ist schwanger und liegt allein im Bett!« flüsterte sie.
    Lamartine dachte daran, daß er, wenn er ein anderer, ein wilderer, impulsiverer, stärkerer Mensch wäre,
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