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Stevens, Chevy

Stevens, Chevy

Titel: Stevens, Chevy
Autoren: Still Missing
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wenn ich andauernd
rumrennen und alles kontrollieren müsste, ohne dass irgendjemand anders es
mitbekäme.
    Als ich
nach Hause kam, dachte ich zuerst, ich müsste nur einen Menschen finden, der
genauso empfindet wie ich ... Ich war sogar so dämlich, nach einer
Selbsthilfegruppe zu suchen. Es stellte sich heraus, dass es kein AOBE gibt,
keine Anonymen Opfer von beschissenen Entführern, weder online noch offline.
Egal, das ganze Konzept von Anonymität ist eh für die Katz, wenn man in Zeitschriften,
auf Titelbildern und in Talkshows zu sehen ist. Selbst wenn ich eine Gruppe ins
Leben riefe, möchte ich wetten, dass die wunderbar mitfühlenden Mitglieder
meinen Dreck zu Geld machen würden, sobald sie aus der Tür raus wären. Sie
würden meinen Schmerz irgendeinem Schundblatt verkaufen, damit sie eine
Kreuzfahrt buchen oder sich einen Plasma-Fernseher kaufen können.
    Außerdem
hasse ich es, mit Fremden darüber zu reden, besonders mit Reportern, die einem
anschließend jedes Wort im Mund umdrehen. Aber Sie wären überrascht, wie viel
manche Zeitschriften und Fernsehshows für ein Interview zu zahlen bereit sind.
Ich wollte das Geld nicht, aber sie haben es trotzdem immer wieder angeboten,
und verdammt, ich brauche es. Ich kann schließlich nicht mehr als Maklerin
arbeiten. Was ist denn das für eine Maklerin, die Angst hat, mit fremden
Männern allein zu sein!
    Manchmal
gehe ich zurück zu dem Tag, an dem ich entführt wurde. Ich gehe alles, was ich
bis zur Besichtigung getan habe, noch einmal Schritt für Schritt durch, wie bei
einem endlosen Horrorfilm, wo man das Mädchen nicht davon abhalten kann, die
Tür zu öffnen oder das verlassene Gebäude zu betreten. Und dann erinnere ich
mich an das Titelbild von dieser Zeitschrift im Laden. Ein komisches Gefühl,
dass jetzt eine andere Frau mein Bild sieht und denkt, sie wüsste alles über
mich.
     
    2. Sitzung
     
    Auf dem
Weg hierher kam ein Krankenwagen mit lauter Sirene hinter mir her - der Typ
muss mindestens hundertsechzig gefahren sein. Ich hätte beinahe einen Herzschlag
gekriegt. Ich hasse Sirenen. Wenn sie mir nicht einen Heidenschreck einjagen,
was im Moment nicht besonders schwer ist - selbst Chihuahuas sind im Gegensatz
zu mir die Ruhe selbst -, lösen sie einen Erinnerungsschock aus. Ein
Herzinfarkt wäre mir lieber. Ehe Sie anfangen, sich geifernd zu fragen, auf
welche verborgenen Probleme meine Abneigung gegen Krankenwagen wohl hinweisen
könnte, und glauben, Sie könnten mich in null Komma nichts in Ihre
Psychiater-Falle locken, entspannen Sie sich. Wir haben gerade erst angefangen,
uns durch meinen Haufen Scheiße zu graben. Ich hoffe, Sie haben eine große
Schaufel dabei.
    Als ich
zwölf war, holte mein Dad meine ältere Schwester Daisy von der Schlittschuhbahn
ab, wo sie Eiskunstlauf machte. Das war während Moms französischer Phase, in
der sie für die französische Küche geschwärmt hat. Während wir warteten, hat
sie Zwiebelsuppe zubereitet. Der Großteil meiner Kindheitserinnerungen ist in
die Düfte und den Geschmack der Küche aus dem Land gehüllt, für die meine Mutter
sich jeweils begeisterte, und die Frage, ob ich bestimmte Sachen runterbringe
oder nicht, hängt von der Erinnerung ab. Französische Zwiebelsuppe kann ich
nicht essen. Ich kann das Zeug nicht einmal riechen.
     Als die
Sirenen an jenem Abend vor unserem Haus vorbeifuhren, stellte ich den
Fernseher lauter, um sie zu übertönen. Später stellte sich heraus, dass die
Sirenen Daisy und meinem Dad gegolten hatten.
    Auf dem
Heimweg hatte Dad an einem Eckladen gehalten, und als sie wieder auf die
Kreuzung fuhren, hat ein betrunkener Fahrer die rote Ampel übersehen und sie
volle Kanne gerammt. Das Arschloch hat unseren Kombi zusammengeknüllt wie ein
gebrauchtes Taschentuch. Jahrelang habe ich mich gefragt, ob sie noch leben
würden, wenn ich meinen Dad nicht angebettelt hätte, Eiscreme zum Nachtisch
mitzubringen. Für mich bestand die einzige Möglichkeit zum Weitermachen darin,
dass ich mir sagte, ihr Tod sei das Schlimmste, was mir in meinem Leben
passieren könnte. Irrtum.
     
    Nach der
Injektion in mein Bein und bevor ich das Bewusstsein verlor, erinnere ich mich
an zwei Dinge: das Gefühl der kratzigen Decke an meinem Gesicht und den
schwachen Parfümduft.
    Als ich
aufwachte, wunderte ich mich, warum mein Hund nicht neben mir lag. Dann machte
ich die Augen auf und sah einen weißen Kissenbezug. Meine waren gelb.
    Ich setzte
mich so hastig auf, dass ich fast ohnmächtig
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