Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterntagebücher

Sterntagebücher

Titel: Sterntagebücher
Autoren: Stanislaw Lem
Vom Netzwerk:
blinde Fahrt durfte schließlich nicht unendlich dauern. Eine Zeitlang konnte ich meinen Ärger bezähmen, aber als ich nach dem Mittagessen daranging, das Geschirr abzuwaschen, stellte ich fest, daß die von der enormen Arbeit erhitzte Atomsäule mir die beste Portion Rindsfilet verdorben hatte, und ich verlor für eine Weile mein seelisches Gleichgewicht; ich stieß die fürchterlichsten Flüche aus und zerschlug einen Teil des Geschirrs, was mir zwar eine gewisse Erleichterung verschaffte, jedoch nicht sehr sinnvoll war. Obendrein verblieb das über Bord geworfene Rindfleisch, statt in die Ferne zu fliegen, in der Nähe der Rakete und kreiste um sie herum wie ein zweiter künstlicher Satellit, wobei es regelmäßig alle elf Minuten und vier Sekunden eine kurze Sonnenfinsternis bewirkte. Um meine Nerven zu beruhigen, berechnete ich bis zum Abend die Elemente seiner Bewegung sowie die Störungen der Umlaufbahn, die durch das Kreisen des Schlüssels entstehen würden. Ich gelangte zu dem Ergebnis, daß in den nächsten sechs Millionen Jahren das Rindfleisch dem Schlüssel auf einer Kreisbahn um das Raumschiff vorauseilen würde, um ihn dann zu überholen. Schließlich legte ich mich, müde von der langen Rechnerei, schlafen. Mitten in der Nacht hatte ich das Gefühl, daß mich jemand an den Schultern rüttelte. Ich schlug die Augen auf und erblickte einen über das Bett gebeugten Menschen, dessen Gesicht mir seltsam bekannt vorkam, ohne daß ich hätte sagen können, wer das war.
      »Steh auf«, sagte er, »und nimm die Schlüssel, wir gehen nach oben und drehen die Steuerschrauben fest…«
      »Erstens kennen Sie mich nicht gut genug, um mich zu duzen, und zweitens weiß ich genau, daß es Sie nicht gibt. Ich bin allein in der Rakete, und das schon das zweite Jahr, denn ich fliege von der Erde zum Sternbild des Kalbes. Somit sind Sie nur eine Traumvision.«
      Er indes schüttelte mich weiter und wiederholte, ich solle ihm sofort zu den Geräten folgen.
      »Unfug«, erwiderte ich, nunmehr schon etwas böse, denn ich befürchtete, die Auseinandersetzung im Traum könnte mich wecken, und ich weiß aus Erfahrung, wie schwer es ist, nach einem plötzlichen Erwachen wieder einzuschlafen. »Nirgends gehe ich mit, das wäre ja sowieso umsonst. Eine Schraube, die im Traum festgedreht wird, kann an der wirklichen Lage nichts ändern. Bitte belästigen Sie mich nicht und zerfließen Sie auf der Stelle oder begeben Sie sich auf andere Weise hinweg, sonst wache ich tatsächlich noch auf.«
      »Aber du schläfst ja gar nicht, Ehrenwort!« rief die hartnäckige Erscheinung. »Erkennst du mich denn nicht? Schau her.«
      Während er sprach, berührte er mit den Fingern zwei Warzen, groß wie Walderdbeeren, die er auf der linken Wange hatte. Instinktiv faßte auch ich mich an die Wange, weil ich an derselben Stelle zwei völlig gleiche Warzen habe. In diesem Augenblick begriff ich auch, weshalb mich die Traumerscheinung an einen Bekannten erinnerte: Sie glich mir aufs Haar.
      »Laß mich zufrieden!« rief ich und schloß die Augen, besorgt um meinen Schlaf. »Wenn du ich bist, brauche ich dich zwar nicht zu siezen, aber das ist noch lange kein Beweis, daß du nicht existierst!«
      Woraufhin ich mich auf die andere Seite drehte und mir die Decke über den Kopf zog. Ich hörte noch, wie er etwas von Idiotie sagte und schließlich, als ich nicht reagierte, ausrief: »Du wirst das noch bereuen, du Narr! Du wirst dich noch davon überzeugen, daß das kein Traum ist, aber dann wird es zu spät sein!«
      Ich rührte keinen Finger. Als ich frühmorgens die Augen aufschlug, fiel mir gleich die eigenartige nächtliche Geschichte ein. Ich setzte mich im Bett auf und sann darüber nach, was für interessante Streiche einem doch der eigene Verstand mitunter spielt: Da keine verwandte Seele an Bord war, hatte ich mich in Anbetracht einer zwingenden Notwendigkeit im Traum verdoppelt, nur um dem Bedürfnis Genüge zu tun.
      Nach dem Frühstück stellte ich fest, daß das Raumschiff über Nacht zusätzliche Beschleunigung erlangt hatte, und ging daran, in den Nachschlagewerken der kleinen Bordbibliothek einen Ausweg aus meiner fatalen Situation zu suchen. Ich fand jedoch nichts. So breitete ich die Sternkarte auf dem Tisch aus und suchte im Schein der nahen Betelgeuze, die in gewissen Abständen von dem kreisenden Rindfleisch verdeckt wurde, in der Gegend, in der ich mich befand, nach einer kosmischen Zivilisation, von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher