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Sternstunden des Universums

Sternstunden des Universums

Titel: Sternstunden des Universums
Autoren: Harald Lesch
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die kritische Masse überschritten, die Masse also »überkritisch«, so gibt es kein Halten mehr; die Reaktionsrate steigt, die Kettenreaktion wächst im Bruchteil einer Sekunde lawinenartig an und ist nicht mehr zu beherrschen. In einem Kernreaktor wäre das der »GAU«, der größte anzunehmende Unfall. Doch so weit muss es nicht kommen. Gelingt es, in die überkritische Masse Substanzen mit einem hohen Absorptionsquerschnitt für Neutronen einzubringen, so werden der Kettenreaktion überschüssige Neutronen entzogen. Man kann dazu sogenannte Steuerstäbe mit einem hohen Anteil an Bor, Cadmium oder Gadolinium verwenden, die je nach Bedarf mehr oder weniger weit in das spaltbare Material hineingeschoben und wieder herausgezogen werden. Auf diese Weise lässt sich die Reaktionsrate beeinflussen.
    Die erste von Menschenhand herbeigeführte kontrollierte Kettenreaktion gelang am 2. Dezember 1942. Gemeinsam mit einem Team von Physikern und Ingenieuren hatte der italienische Physiker Enrico Fermi an der Universität von Chicago in den Tagen zuvor einen ziemlich primitiven Kernreaktor aufgebaut. »Chicago Pile Number 1«, so der Name des Reaktors, bestand aus einer von Holzbalken gestützten, würfelförmigen Anordnung von etwas mehr als sechs Tonnen reinem Uranmetall und 34 Tonnen Uranoxid (Abb. 3). Dazwischen waren etwa 400 Tonnen an schwarzen Graphitklötzen aufgeschichtet, die als Moderator fungierten. Zur Kontrolle der Kernreaktion dienten in den Aufbau eingesteckte Cadmiumstäbe. Einige Stäbe waren durch ein Seil vor dem Hineinfallen gesichert. Falls die Kettenreaktion außer Kontrolle zu geraten drohte, so die Idee, sollte eine mit einer Axt »bewaffnete« Person das Seil durchtrennen und die Stäbe in den Reaktor fallen lassen. Auf eine Abschirmung gegen die bei der Kernspaltung frei werdende Gammastrahlung und auf eine Kühlung des gesamten Reaktors hatte man verzichtet.

    Abb. 3: In dem unter Leitung des Physikers Enrico Fermi aufgebauten Kernreaktor »Chicago Pile Number 1« gelang im Dezember 1942 die erste von Menschenhand herbeigeführte kontrollierte atomare Kettenreaktion.
    Nachdem man die Cadmiumstäbe über mehrere Stunden Zentimeter für Zentimeter herausgezogen hatte, war es schließlich so weit: Um 15.25 Uhr Chicagoer Ortszeit zeigten die Instrumente, dass im Uran des Reaktors eine stabile atomare Kettenreaktion ablief. Fermi entkorkte eine Flasche Chianti-wein, füllte Pappbecher, und die anwesenden Wissenschaftler tranken still auf den Erfolg. Nachträglich betrachtet war »Chicago Pile Number 1« ein ziemlich riskantes Unternehmen. Man vertraute völlig den Berechnungen Fermis. Wäre das Unternehmen schiefgegangen, wäre vermutlich eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der USA radioaktiv verseucht worden.
    Heute, rund 70 Jahre später, werden Kernreaktoren weltweit zur Energieerzeugung eingesetzt. Heerscharen von Ingenieuren haben Typen wie Druckwasser-, Siedewasser-, Hochtemperatur- und Brutreaktoren entwickelt. Durch Verfahren zur Anreicherung von U235 in den Brennstäben konnte man die kritische Masse drastisch verkleinern. Die Reaktoren wurden immer leistungsfähiger, die technische Ausführung komplexer, die Sicherheitssysteme immer ausgefeilter. Und nicht zuletzt: Kernreaktoren stehen nicht im Verdacht, durch eine Erhöhung der Kohlendioxidkonzentration der Atmosphäre zum Klimawandel beizutragen. Kurzum, in den modernen »kerntechnischen Maschinen« steckt eine Menge physikalisches und technisches Know-how, auf das die Erbauer mit Recht stolz sind. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Nach wie vor ist die sichere Endlagerung der radioaktiven Abfälle ein ungelöstes Problem. Auch eine Freisetzung des radioaktiven Materials eines AKWs, sei es durch Gewalt von außen oder durch eine Kernschmelze im Inneren, würde bei Mensch und Natur enorme Schäden verursachen. Mag sein, dass der Bruch eines großen Staudammes ähnlich viele Menschenleben kosten würde. Doch nach dem Unglück könnte man umgehend mit den Aufräumarbeiten beginnen. Nach einem schwerwiegenden Unfall in einem AKW wären jedoch ganze Landstriche für Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte unbewohnbar.
    Lässt man die Entwicklung von den Anfängen der Kernspaltung bis zu den heutigen Kernkraftwerken Revue passieren, könnte man zu der Auffassung gelangen, allein der menschliche Erfindergeist sei in der Lage, die nötigen Voraussetzungen für eine kontrollierte Kernspaltung zu schaffen und die technischen Klippen auf dem Wege
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