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Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide

Titel: Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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besichtigen, die von den Wüstenbewohnern dort errichtet worden war, wo es, wie er sagte, noch vor ganz kurzer Zeit nichts als Sand und ausgedörrtes Gesträuch gegeben hatte. Er wünschte mehr über die Sitten und Sprache der Wüstenstämme zu erfahren. Er wünschte, die Veränderungen mitzuerleben, die sein Bruder in diese Gegend brachte. Er würde über das Gesehene berichten und Reyna und Aberra häufig Nachrichten zukommen lassen. Und eines Tages, wenn er genug gesehen hatte, wollte er ins Terlath-Tal zurückkehren.
    Das hatte er gesagt. Aber hinter seinen Worten war noch etwas anderes gewesen; etwas, daß er sorgfältig zu verbergen versucht hatte. Reyna hatte einen kurzen Eindruck davon erhalten, bevor er fortgeritten war: eine Kränkung, ein Kummer. Beunruhigt hatte sie versucht, die Ursache dafür herauszufinden; aber ohne Erfolg. Solange sie nicht wußte, weshalb er fortgegangen war, konnte sie sich keine Vorstellung davon machen, wann er zurückkommen würde. Zuweilen, wenn sie die beiden kurzen Mitteilungen überflog, die er geschickt hatte, dachte sie, daß er vielleicht überhaupt nicht wiederkommen würde.
    Und als ob es damit noch nicht genug wäre ...
    Aber sie wollte jetzt nicht über Aberra nachdenken. Der Morgen war warm, und es war Holzrauchtag ... Gründe genug, allen Kummer zu vergessen. Sie wandte sich entschlossen vom Fenster ab, zog ihr Hemd an und eilte aus der Kammer.
    Auf den Fluren war die Erregung nicht zu übersehen. Putzleute schwangen nachlässig ihre Besen, lachten und knufften einander. Lehrlinge tollten übermütig umher. Eine Gruppe Stengellampentrimmer hatten ihren Karren ohne Aufsicht gelassen. Er quoll über vor glühenden Reben. Der Duft nach Gesottenem und Gebratenem schwängerte die Luft. Reyna nickte kurz Nivan zu, der persönlichen Botin ihrer Mutter, und lief, plötzlich hungrig, auf die Treppen zu.
    Sie hatte gehofft, daß im Speisesaal noch Leute an den langen Tischen säßen und frühstückten. Die leeren Stühle an ihrem eigenen Tisch hätten sie weniger gestört, wenn die übrigen im Saal besetzt gewesen wären. Aber an diesem Morgen war die Halle leer, bis auf eine Sippschaft von Hirten. Sie beschäftigten sich schweigend mit dem Frühstück; ihre Gesichter waren von der Sonne gerötet. Reyna füllte ihre Platte am Büfett, setzte sich wieder und betrachtete die Hirten; ihr Appetit schwand zusehends dahin. Ihre Gedanken verfolgten beim Anblick der Hirten einen zwanghaften Kurs.
    Sie wanderten in den Berg, wie es Aberra getan hatte. Jedes Frühjahr erklommen sie mit ihren Herden die felsigen Hänge; jeder mit einem Spieß und einem Packen ausgerüstet – wie es auch Aberra gewesen war. Während der Weidesaison begegneten ihnen sämtliche Gefahren des Berges. Gelegentlich trafen sie sogar auf die dort lebenden Bestien, obwohl sie es nicht darauf anlegten. Sie spürten nicht dem Breeterlik, dem Klipp-Charger oder dem Mim nach – wie es Aberra getan hatte.
    Manchmal trafen die Hirten jedenfalls auf eine dieser Bestien. Aber sie waren zur Holzrauchnacht vom Berg gekommen. Aberra hingegen ...
    Aberra war nicht zurückgekommen. Plötzlich stieß Reyna ihren Stuhl zurück, unfähig, noch länger am leeren Tisch zu sitzen. Sie weinte nicht. Dieses Stadium hatte sie schon vor ragen abgeschlossen. Aber ihr Magen war voller Säure, und in ihrem Hals steckte ein Kloß; vertraute Erscheinungen. Wenn sie nur essen könnte, ohne ständig auf Aberras leeren Stuhl starren zu müssen, wenn sie nur auf den Turm steigen könnte, ohne auf Aberras Schritte hinter sich zu lauschen, wenn sie nur schreiben könnte, ohne zu erwarten, daß der Klang der Stimme Aberras sie aufschauen lassen würde; wenn sie dies alles nur erlernen könnte ...
    Sie hatte es noch nicht gelernt, und Aberra war bereits seit neunzehn Tagen fort. Reyna erhob sich hastig, stieß fast ihr Getränk um und rannte aus dem Speisesaal. Sie eilte blind durch die Flure und fragte sich, wie lange sie es aushalten könnte, sich nicht umzuwenden und zu erwarten, daß sie Aberra neben sich erblicken würde. Wie lange noch würde sie nicht reden können, ohne darauf zu warten, daß Aberra antwortete? Und weshalb hatte sie nicht erraten, daß Aberra vorhatte, zum Berg zu gehen, als sie es an jenem Morgen versäumt hatte, sie in den Schreibraum zu begleiten? Wieso hatte sie nichts geahnt, nach den ungeschickten Übungen des Winters; nach den Abenden im Frühling, an denen Aberra ihr Essen unberührt hatte stehenlassen und in ihr
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