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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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mit Stefan gesagt hat, nachdem er den Drehbuch-Wettbewerb gewonnen hatte. Vielleicht wurde die Idee ja an diesem Abend geboren. Vielleicht hatte sie beschlossen, sein Skript zu verfilmen, um Kontakt zu ihm zu bekommen und ihn Schritt für Schritt näher kennenzulernen, um ihn manipulieren zu können. Sie bot sich ihm als das Mädchen an, das seinen Träumen Flügel verlieh. Aber in der Filmbranche braucht alles seine Zeit. Es gibt tausend Treffen und Sitzungen, immer wieder. Sich an Stefan zu verkaufen, war einigermaßen risikolos, weil er längst tot sein würde, bevor das Filmprojekt je realisiert wäre.
    Was sie ihm wohl erzählt hat?, fragt er sich. Welche Worte haben seinen Hass so angefacht? Vielleicht hat sie ihm gesagt, dass es Mädchen wie Henriette sind, die Männer zu Vergewaltigern machen und Familien zerstören. Es war sicher nicht schwierig, Stefan mit dieser Art von Logik anzuspitzen, vor dem Hintergrund, was seiner Mutter widerfahren war. Je länger Henning darüber nachdenkt, desto überzeugter ist er, dass Anette Stefan die ganze Zeit angestachelt hat. Wie eine echte Regisseurin.
    So gesehen wäre es auch nur logisch, dass die beiden –oder Anette im Alleingang – versucht haben, den Verdacht auf Mahmoud Marhoni zu lenken, indem sie von Henriettes Handy SMS an ihn schickte, genau wie im Drehbuch beschrieben, die wegen der Andeutungen über Henriettes Untreue oder wegen des Fotos in Henriettes Mailbox schwer zu erklären sein würden. Sein Wort hätte gegen die SMS einer Toten gestanden. Überdies hätte niemand Probleme gehabt, sich vorzustellen, dass Henriette ihren Freund betrogen hat. Sie war die große Flirterin, auf die alle scharf waren. Selbst Anette.
    Er sieht Stefans lebloses Gesicht vor sich, an die Wand gedrückt. Hat Anette ihm gesagt, dass sie mit ihm gehen würde? Haben sie einen Selbstmordpakt geschlossen? Aber wie hat sie es geschafft, ihn so hinters Licht zu führen? Hat er nicht gesehen, dass ihre Pillen anders waren? Wieso …
    Moment mal, denkt er, als ihm etwas in den Sinn kommt. Und jetzt, da der Gedanke einmal aufgetaucht ist, schließt er mit raschen Bewegungen die Haustür auf. Er nimmt sich keine Zeit, die Post aus dem Briefkasten zu nehmen, ehe er die Treppe hochstapft, ignoriert den Schmerz, der sich vehement in den Hüften und Beinen meldet, schließt seine Wohnungstür auf und legt seinen Laptop auf den Küchentisch. Schnell steigt er auf die Trittleiter und wechselt die Batterien, ehe er die Jacke auszieht und eine der Schubladen der Treibholzkommode aufzieht. Quittungen, Speisekarten, Kerzen, Streichholzschachteln – diese verdammten Streichholzschachteln –, Visitenkarten, aber nicht das, wonach er sucht. Er nimmt eine Flasche Rum heraus, einen billigen Bacardi, noch mehr Speisekarten, und findet endlich unter einem alten Tischhockeytor, das er aus unerfindlichen Gründen aufbewahrt und ausgerechnet dort abgelegt hat, die Visitenkarte. Er wusste ganz genau, dass er sie nicht weggeworfen hat. Er liest den Namen von Dr. Helge Bruunsgaard, der in dicken Druckbuchstaben auf dem weißen Strukturpapier steht.
    Er nimmt sein Handy heraus und sieht, dass der Akku nicht mehr viel Saft hat, für dieses eine Gespräch wird es aber wohl noch reichen.
    Es klingelt lange, bis Dr. Bruunsgaard antwortet. Hennings Atem geht schneller, als er die bekannte Stimme hört: »Sind Sie das, Henning?«
    »Hallo, Helge«, erwidert er.
    »Wie geht es Ihnen? Wie ist es, wieder bei der Arbeit zu sein?«
    »Äh, gut. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät noch anrufe, noch dazu an einem Freitagabend, aber ich will gar nicht über mich reden. Ich brauche Hilfe. Ihren fachlichen Rat. Für einen Artikel, an dem ich schreibe. Darf ich Sie ein paar Minuten stören? Wahrscheinlich sind Sie schon auf dem Weg nach Hause?«
    »Ja, bin ich, aber kein Problem, Henning. Ich sitze im Auto und stecke im Stau, vor mir hat es einen Unfall gegeben. Also, schießen Sie los, was wollen Sie wissen?«
    Henning versucht, seine Gedanken zu sortieren.
    »Es hört sich vielleicht etwas merkwürdig an, was ich Sie jetzt fragen werde. Aber es hat nichts mit mir zu tun, also machen Sie sich keine Sorgen.«
    »Worum geht es, Henning?«
    Die plötzliche Besorgtheit in der Stimme des Arztes perlt an ihm ab. Er holt tief Luft. Dann stellt er seine Frage.
    Der Computer fährt zögerlich hoch und braucht wie immer eine halbe Ewigkeit. Er läuft unruhig im Kreis herum und wartet darauf, dass all die installierten Programme
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