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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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während er etwas in ihren Augen zu sehen versucht. Dem Spiegel der Seele, in dem die Wahrheit steckt. Aber sie sieht ihn einfach nur an. Er schaut abwechselnd auf die Süßigkeit und zu ihr.
    »Halloooo?«
    Anette wedelt mit der Hand vor seinem Gesicht herum. Er nimmt die Pastille zwischen Daumen und Zeigefinger, hält sie hoch, mustert sie und schnuppert daran.
    »Was machen Sie da?« Anette lacht und zermahlt weiter die Pastillen zwischen ihren Zähnen.
    »Ähm, ich …«
    Seine Stimme ist kraftlos, als stände ihm nicht genügend Luft zur Verfügung. Dann fährt eine Straßenbahn auf den Olaf Ryes plass und hält mit quietschenden Rädern, es klingt wie eine Mischung aus Schweinequieken und Kreissäge.
    »Da kommt meine Straßenbahn«, sagt Anette und setzt sich in Bewegung. Sie sieht ihn an, schaut ihm in die Augen. »Danke noch mal für die Einladung. Ich muss mich beeilen. Bis bald.«
    Sie lächelt, dreht sich um und läuft los.
    Ihr Rucksack hüpft auf und ab, und er bleibt stehen und schaut hinter ihr her, bis sie in den blau-weißen Wagen eingestiegen ist. Als die Tür sich schließt und die Bahn Richtung Zentrum davonrollt, setzt sie sich an einen Fensterplatz und sieht ihn an.
    Ihr Blick beißt sich in ihm fest wie ein Maul voller messerscharfer Reißzähne.
    Er braucht Ewigkeiten bis nach Hause, ist kaum in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Immer wieder wandern seine Gedanken zu Anettes Lächeln, als sie sich umdreht, der Rucksack über ihrer Schulter, den sie nicht ordentlich aufgesetzt hat und der jeder ihrer Bewegungen folgt, als sie losläuft. Er sieht die Aufnäher auf ihrem Rucksack. Die exotischen Ortsnamen vollführen einen merkwürdigen Tanz vor seinen Augen.
    Die Bilder wiederholen sich unablässig, während seine Sohlen dumpf auf den Asphalt aufschlagen, als er an der Schlange der Wartenden vor der Villa Paradiso vorbeigeht.
    Drinnen wird Pizza gegessen, getrunken, gelacht. Er versucht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, sieht Anettes Augen vor sich, die Erleichterung in ihrem Blick, den Grad an Zufriedenheit, nur wenige Stunden, nachdem sie mit einer Stun Gun ausgeknockt wurde. Und er hört Tore Benjaminsen, als er ihre Stimme nachahmt: Was hat es für einen Sinn, ein Genie zu sein, wenn keiner es merkt?
    Anette, denkt er. Möglicherweise bist du das cleverste Mädchen, das mir je begegnet ist. Noch immer den Geschmack der Knott-Pastillen im Mund, biegt er mit dem schalen Gefühl in die Seilduksgate ein, betrogen worden zu sein.
    Wie alle anderen auch.

71
    Das Gefühl, das ihn noch vor wenigen Stunden erfüllt hat, ist verpufft. Verschwunden sind die Erleichterung, die Zufriedenheit und das gute Gefühl, eine neue Quelle gefunden und Iver Gundersen ein Karamell zu lutschen gegeben zu haben.
    Jetzt sind seine Schritte bleischwer.
    Er geht durch die Eingangstür und spielt den Gedanken durch. Hat sie Stefan vorgegaukelt, sich ebenfalls umbringen zu wollen? Hat er so dicht an der Wand gelegen, weil sie neben ihm in dem schmalen Bett lag?
    Aber warum?
    Er denkt wieder an Tore Benjaminsen, der Anette für lesbisch hält, auch wenn sie schon mit mehreren Kandidaten des anderen Geschlechts in der Kiste gelandet ist. Vielleicht ist es ganz simpel, denkt er, vielleicht hat Henriette auch mit Anette geflirtet wie mit allen anderen, sie dann aber, als Anette glaubte, Henriette würde mehr von ihr wollen, abblitzen lassen. Es war bestimmt nicht das erste Mal, dass Anette so etwas widerfuhr, aber vermutlich war sie nie so verletzt worden, nicht von jemandem, den sie wirklich liebte. Und vielleicht hat sie zum ersten Mal gemerkt, wie weh das tut, und die dünne, gefährliche Grenze zwischen Liebe und Hass überschritten.
    Ein cleveres Mädchen, denkt er, während ihm durch den Kopf geht, was sie im Zelt zu ihnen gesagt hat. Ihrem Manuskript nach sollte es ja auch ziemlich klar sein, mit wem er geschlafen hat. Drängt sich da nicht förmlich der Gedanke auf, die Idee für das Drehbuch stamme eigentlich von Anette? Vielleicht war sie diejenige, die nicht auf den Gaarder-Strang verzichten wollte, damit alle glaubten, Henriette hätte ein Verhältnis mit Yngve Foldvik gehabt. Foldvik hat bei seinem Gespräch mit Henning selbst gesagt, dass das Drehbuch von Henriette stammt, Anette bei der Ausformung aber sicher ihre Finger im Spiel hatte.
    Wann hat es angefangen?, fragt er sich. Zu welchem Zeitpunkt begannen ihre Pläne, Form anzunehmen?
    Er erinnert sich, was sie über ihre erste Begegnung
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