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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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Danke, sagt er innerlich.
    »Blöde Journalisten«, murmelt sie.
    Er erstarrt für einen Moment und will sich ihr zuwenden und etwas erwidern. Aber er lässt es bleiben. Es hat doch keinen Sinn. Entmutigt stößt er die Kühlschranktür zu und sieht sich um. Der Boden liegt voller Krümel und Zigarettenasche. Überall. Und schon aus der Küche sieht er den Staub auf dem Fernseher. Das Wohnzimmer mit dem braunen Dreiersofa, dem Sessel mit Fußbank, dem dunkelbraunen Couchtisch und der gestreiften Tapete wirkt einigermaßen ordentlich, er weiß aber ganz genau, wie es unter dem Tisch vor dem Sofa aussieht. Und auf dem roten Perserteppich, der vor dem Fernseher liegt.
    Er holt den Staubsauger aus dem Flurschrank und schaltet ihn ein. Dann saugt er den Eingangsbereich, das kleine, enge Bad und das Schlafzimmer, ehe er sich das Wohnzimmer vornimmt. Als er den Staubsaugerfuß abnimmt, um den Staub auf der Leiste neben dem Kamin wegzusaugen, fällt sein Blick auf den grauweißen Kaminvorsprung.
    Die Bilder, die dort stehen, hat er sicher schon hundertmal gesehen. Einige zeigen seine Mutter, als sie noch eine Mutter war. Auch ein Hochzeitsfoto ist darunter und Bilder von Trine, Trine mit ihrem Ehemann Pål Fredrik und Trine und Henning, als sie klein waren, beim Spielen auf dem steinigen Strand vor der Hütte.
    Und er sieht ein Foto von Jonas.
    Er nimmt es herunter und betrachtet es. Jonas lächelt in die Kamera. Es muss Weihnachten sein, denn an der Wand hinter seinen hellen Locken hängen Weihnachtskarten an einem grünen Seidenband. Statt alle Karten auf einem Tisch oder an einer Tafel zu sammeln, hatten sie sie mit Büroklammern an dieses grüne Band gehängt, sodass es wie ein Weihnachtsbaum voller Grüße aussah.
    Jonas war drei Jahre alt, als dieses Bild aufgenommen worden ist. Henning weiß nicht mehr, bei welcher Gelegenheit das war, aber das Lächeln des Jungen ist voller Vorfreude. Er sieht sich das Bild an, lange, während der Staubsauger neben ihm dröhnt, ist wie magnetisiert und kann es nicht wieder wegstellen.
    Er weiß nicht, wie lange er dort steht, es muss aber eine ganze Weile sein. Er kommt erst wieder zu sich, als seine Mutter demonstrativ die Lautstärke des Radios aufdreht, um den Staubsauger zu übertönen. Genug, denkt er und stellt das Bild weg.
    Dieses Mal nicht mit dem Foto nach unten.

69
    Im Laufe der einen Stunde, die er bei seiner Mutter ist, schafft sie es, zwanzig Zigaretten zu rauchen. Als er wieder auf die Straße tritt und die Leute sieht, die in den Sofienbergpark gehen, um den Freitagabend zu genießen, klingelt sein Handy. Eine SMS . Er öffnet sie beim Gehen und sieht zu seiner Überraschung, dass sie von Anette ist.
    Leben Sie?
    Er lächelt innerlich und tippt eine Antwort.
    Gerade so eben. Am liebsten würde ich Ihnen die gleiche Frage stellen. Wie geht’s?
    Er geht langsamer, hält das Handy in der Hand und sieht den Menschen dabei zu, wie sie Decken ausrollen, Stühle aufklappen und Nackenkoteletts auspacken.
    Anettes Antwort kommt prompt. Es vibriert und piept in seiner Hand.
    Ein bisschen groggy, aber es geht.
    Er ist noch nie von einer Stun Gun getroffen worden und hofft, dass das auch so bleibt. Anette wird die Erfahrung sicher nie vergessen, denkt er.
    Er schickt ihr eine weitere SMS .
    Hunger? Sollen wir irgendwo eine Kleinigkeit essen gehen?
    Er drückt auf Senden und hofft, dass Anette ihn nicht missversteht. Er will einfach nur ein bisschen reden. Und Hunger hat er wirklich, schließlich hat er in den letzten Tagen kaum etwas gegessen.
    Es piept wieder.
    Gerne. Hab Riesenkohldampf. Im Fontés, in Løkka? Die haben da gutes Essen.
    Er antwortet sofort.
    Super, dann sehen wir uns da.
    Zufrieden klappt er das Handy zu und beschleunigt seine Schritte. Sie hat recht, sagt er sich selbst. Das Essen dort ist wirklich gut. Und ein Bier wird er sich auch gönnen.
    Es ist schließlich Freitag.
    Er hat das erste Pils gerade ausgetrunken, als Anette kommt. Er sitzt an der Wand neben dem Kamin, in dem ein dickes Scheit brennt, dem Juniabend zum Trotz. Er hat dieses Scheit in den letzten Minuten ziemlich intensiv studiert, aber es war der einzige freie Tisch.
    Er hebt die Hand und winkt ihr zu. Anette sieht ihn sofort und lächelt.
    Als er aufsteht, umarmt sie ihn.
    Es ist eine Weile her, dass ihn zuletzt jemand umarmt hat.
    Sie setzen sich. Gleich darauf taucht der Kellner, ein großer, dunkler Typ mit den weißesten Zähnen, die Henning jemals gesehen hat, an ihrem Tisch auf und
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