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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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zu haben. Aber er hat einfach das Gefühl, dass eine Beziehung zwischen den beiden nicht gut gehen würde, weshalb er nicht im Traum daran denkt, diesen Gedanken weiterzuverfolgen.
    Wie immer, wenn er zu seiner Mutter kommt, steht er erst einmal fassungslos vor der Wand aus blauem Dunst. An ihren Tapeten klebt Marlboro. Sollte es jemals jemand wagen, ihre Zimmerdecke zu waschen, würden Seife und Wasser sich mit uraltem Nikotin und Teer zu einer braunen Blasen werfenden Paste mischen, da ist er sich vollkommen sicher. In diesen Momenten spürt er immer, wie froh er darüber ist, selbst nicht mehr zu rauchen, denn sonst würde wohl auch seine Wohnung bald so aussehen.
    Er hebt die sechs Plastiktüten an und geht ins Wohnzimmer. Wie immer dröhnt das Radio. Christine Juul sitzt an ihrem angestammten Platz in der Küche und raucht. Sie hebt kaum den Blick von ihrer Zeitung, als sie ihren Sohn sieht.
    »Hallo, Mama!«, ruft er, um die Stimmen im Radio zu übertönen. Der verlorene Sohn kehrt heim, aber ein Willkommensgruß ist nicht zu erwarten. Ihr Blick klebt an den Tüten, die er mitgebracht hat. Ganz bewusst hat er sie als Erstes die braune Tüte aus dem Vinmonopol sehen lassen. Die mit dem Likör.
    »Das wurde ja auch Zeit«, faucht sie.
    Er überhört ihren Kommentar, geht in die Küche und öffnet den Kühlschrank. Er lässt es beim Einräumen klirren und weiß, dass dieses Klirren für sie die schönste Musik ist. Er packt die Tüten aus, räumt Milch, Käse, Zucker, Brot und was er sonst noch gekauft hat weg und sieht verstohlen zu ihr hinüber. Sie sieht aus wie immer, trägt eine nikotingelbe Hose, die einmal weiß war, eine nikotingelbe Bluse, die einmal hellgelb war und darüber die braune Strickjacke, weil ihr kalt ist. Und kalt ist es, weil sie lüftet. Gott sei Dank hat sie wenigstens das Fenster aufgemacht.
    »Wie geht es dir?«, fragt er.
    »Schlecht.«
    »Was Neues?«
    »Was Neues ?«
    Sie grunzt. Ich hätte ihre Krankenakte gründlich studieren sollen, bevor ich gekommen bin, denkt er und lächelt im Stillen.
    Im Radio läuft eine Diskussionssendung, aber erst nach einer Minute wird ihm bewusst, dass das 1730 ist. Iver Gundersens Stimme zu hören, erfüllt ihn zu seiner Überraschung mit gewissem Stolz. Dann hört er den Programmleiter.
    »Iver Gundersen, Sie waren es ja, der diesen Fall heute im Laufe des Tages aufgedröselt hat. Glauben Sie, dass das Ganze ein Nachspiel haben wird? Dass die Scharia in der norwegischen Gesellschaft in der nächsten Zeit stärker im Blickfeld stehen wird?«
    »Nein, Andreas, das glaube ich nicht. Ich glaube, den meisten Menschen ist klar, dass das in Norwegen nicht an der Tagesordnung sein wird, egal wie viele Muslime hierherkommen. Möglicherweise schärft es unser Bewusstsein in Bezug auf die Frage, was die Scharia eigentlich ist. Und das käme wohl uns allen zugute.«
    Braver Junge, denkt Henning. Er überlegt kurz, seine Mutter zu bitten, die Lautstärke etwas zu verringern, lässt es dann aber sein. Sie würde es doch nicht tun. Stattdessen versucht er für sich, den Ton zu blockieren. Er sieht ihr dabei zu, wie sie die erste Flasche öffnen will, ohne Erfolg. Schließlich nimmt er ihr die Flasche aus der Hand und schraubt den Deckel ab. Er holt ein Schnapsglas aus dem Küchenschrank und stellt es vor sie hin. Einschenken kannst du wohl selber, denkt er. Aber er sieht, wie ihre Finger zittern, als sie sich eingießt und die Hälfte verschüttet. Unglaublich, wie sie zittert.
    Das erfüllt ihn mit einer Mischung aus Wut und Mitleid. Er seufzt und sieht zu, wie sie den ersten kräftigen Schluck trinkt und dabei die Augen schließt. Er kann fast selbst spüren, wie die sirupartige Flüssigkeit ihr von innen Gaumen, Speiseröhre und Magen wärmt. In diesem Augenblick zweifelt er nicht daran, dass dies der beste Moment ist, den sie heute gehabt hat, vielleicht sogar der beste seit Tagen.
    Der Sprecher wechselt das Thema.
    »Justizministerin Trine Juul-Osmundsen steht wieder in der Kritik.«
    Mutter stellt noch lauter. Er würde am liebsten um Hilfe schreien.
    »Die Ministerin hat vorgeschlagen, das automatisch in Kraft tretende Revisionsrecht auf Strafverfahren mit Urteilen über mehr als zwei Jahren Haft zu begrenzen, und zwar angeblich aus Gründen der Effektivität. Der Vorschlag ist bei der Opposition auf heftigen Widerstand gestoßen. Bei uns hier im Studio ist jetzt die Linken-Abgeordnete Karianne Larsåsen. Sie ist der Meinung …«
    Sie stellt den Ton leiser.
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