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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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Hände.
    »Sorry, ich wollte nicht …«
    »Nein, nein, ist schon okay.«
    Anette sieht ihn lange an, bevor sie wieder einen Schluck aus ihrem Glas nimmt. Sie trinken eine Weile schweigend, sehen sich die essenden Gäste an, drehen sich zur Tür, wenn diese sich öffnet, und blicken auf die Flammen im Kamin.
    Eine Frage, die er sich immer wieder gestellt hat, drängt an die Oberfläche.
    »Warum sind Sie eigentlich zurückgekommen?«, fragt er. »Ich meine, warum sind Sie plötzlich im Zelt aufgetaucht?«
    Anette schluckt und unterdrückt ein Rülpsen.
    »Wie ich Ihnen schon gesagt habe: Ich war neugierig. Es war kaum zu übersehen, dass Sie was Wichtiges am Laufen hatten. Sie hätten sich sehen sollen. Ich bin es schließlich gewohnt, mir Geschichten auszudenken, und in diesem Augenblick habe ich erkannt, dass da was wirklich Interessantes läuft. Die Verlockung war einfach zu groß.«
    Er nickt still.
    »Sorry, tut mir leid, ich wollte nicht spionieren.«
    »Wie lange haben Sie denn draußen gestanden, bevor Sie reingekommen sind?«
    »Gar nicht lange. Aber das habe ich doch alles schon endlos mit diesem Brunlanes von der Polizei durchgekaut oder wie der heißt.«
    »Brogeland«, korrigiert Henning sie. »Sorry, ich bin …«
    Er hebt die Hände.
    »Es kocht hier oben immer ein bisschen, wenn ich so etwas mitkriege.«
    Er macht eine Kreisbewegung mit dem Finger vor seiner Schläfe.
    » No worries «, sagt sie, wie sie es in Australien machen. »Skål!«
    Sie hebt ihr Glas, und sie stoßen an.
    »Auf was trinken wir eigentlich?«, fragt er.
    »Dass nicht noch mehr Menschen sterben mussten«, antwortet sie und trinkt.
    »Skål!«

70
    Sie überlassen Stefan, Mutter und Vater Foldvik sich selbst, während sie die kreolisch inspirierten Hamburger mit gebackenen Kartoffelspalten essen. Das Essen ist viel zu üppig für ihn, und er isst zu schnell und trinkt zu viel Bier. Als sie sich irgendwann erheben, nachdem er die Rechnung beglichen hat, befindet er sich auf aufgewühlter offener See.
    Gut, dass er Wellen mag.
    »Danke für die Einladung«, sagt Anette und tritt in den Juniabend hinaus. Es hat wieder angefangen zu regnen, kleine, leichte Tropfen.
    »Es war mir ein Vergnügen.«
    »Lust auf so was?«, sagt sie und dreht sich zu ihm um, als er nach draußen kommt und die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Sie streckt ihm eine Tüte Knott hin.
    »Die schmecken nach ein paar Bier genial.«
    Sie schüttet sich ein paar weiße, braune und graue Pastillen auf den Handteller und schiebt sie in den Mund.
    »Ja, gerne«, sagt er mit einem Lächeln und bekommt auch eine Portion auf den Handteller geschüttet. Knott. Die Süßigkeit seiner Kindheit. Im Laufe der Jahre hat er unzählige Tüten davon verputzt, aber er mag gar nicht dran denken, wie lange es her ist, dass er das letzte Mal eine dieser winzigen Geschmacksbomben gelutscht hat. Er nimmt eine braune Pastille und nickt ihr anerkennend zu.
    »Sie müssen alle auf einmal in den Mund nehmen. Das ist das Beste.«
    Er blickt auf die sieben, acht Pastillen in seiner Hand und führt sie zum Mund. Als eine aus seinem Mund zurück auf den Handteller rollt, lächelt er. Dann, während er kaut, schmatzt und knirscht, fällt ihm die leichte weiße Wölbung auf. Die Knott-Pastillen sehen wie kleine Tabletten aus.
    Klein, weiß und leicht gewölbt.
    Klein, weiß und …
    Scheiße.
    Er kaut zu Ende und sieht Anette an, als er schluckt. Sie schüttelt die Knott-Tüte, lässt noch ein paar Pastillen in die linke Hand rieseln und schiebt sie in den Mund. Er mustert noch immer die weiße Wölbung und denkt an etwas, das Jarle Høgseth zu sagen pflegte: Details, die Gesamtheit liegt im Detail. Ein grauenhaftes Klischee, aber in diesem Moment, in dem er hier steht und auf den kleinen weißen Knott starrt, ist es, als würde ihn die nagende Unruhe, die er schon die ganze Zeit mit sich herumträgt, seit er in Stefans ausdruckslose Augen geschaut hat, dieser Haken, der sich unermüdlich in seinen Eingeweiden rührt, plötzlich ausfahren und ihn von innen aufschlitzen.
    »Was ist los?«, fragt Anette. Er kriegt keinen Ton heraus, sondern sieht sie einfach nur an und denkt an das weiße Pulver unter seinem Schuh, die leichte weiße Wölbung der intakt gebliebenen Tablette daneben und den Geruch, der ihm so seltsam bekannt vorkam. Er muss an die vorgezogenen Gardinen denken und die nicht richtig zugezogene Wohnungstür.
    »Doch nicht so gut?«, fragt sie und grinst. Er merkt, dass er nickt,
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