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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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dass die sechs Jahre, die Jonas gelebt hat, die besten meines Lebens waren, dann ist das zumindest ein Anfang.
    Es ist sicher nicht viel, fühlt sich nicht nach viel an, ist aber doch ein Anfang.
    Er verzichtet auf das Kondolieren, nachdem Henriettes Rettungsboot sechs Fuß unter der Erde angelegt hat. Er hat nicht die Kraft, den Eltern und der Familie in die Augen zu sehen, ohne in Gedanken mit ihnen den Platz zu tauschen. Er will die Trauer nicht wegschließen, weiß, wie wichtig es ist, sie zuzulassen. Aber nicht hier. Und nicht jetzt.
    Die Zeit wird kommen.
    Bloß einen Tag, einen Augenblick noch, Jonas, dann komme auch ich in dein verheißenes Land.

73
    Aus der oberen Etage ist Musik zu hören. Er bleibt vor seiner Wohnungstür stehen und lauscht. Arne Halldis hört Oper. Henning erkennt die Arie sofort wieder. »Nessun Dorma« aus Turandot von Giacomo Puccini. Hennings Lieblingsarie. Luciano Pavarottis unverwechselbare Stimme hallt durchs Treppenhaus.
    Ma il mio mistero è chiuso in me
    il nome mio nessun saprà!
    Arne Halldis ist ein Mann mit vielen Facetten, denkt Henning. Entweder das, oder er ist ein Zyniker von Rang, der bei der Jagd auf Frauen bewusst Gedichte und Opern einsetzt. Wahrscheinlich ist er Gunnar Goma deshalb so sympathisch.
    No, no! Sulla tua bocca li dirò
    quando la luce splenderà!
    Arne Halldis dreht die Lautstärke hoch, als der Höhepunkt naht.
    All’alba vincerò!
    Vincerò, vincerò!
    Der Gesang sickert durch Mauern und Beton, durch Holzplatten und Gips und trifft Henning wie ein Schlag vor die Stirn. Er bohrt sich durch den dicken Schädel und durchspült sein Inneres, schießt ihm heiß in die Wangen, und noch bevor ihm klar ist, was mit ihm geschieht, fühlt er, wie ihm die Tränen ganz unvermittelt über das Gesicht laufen.
    Seit Woran Er Nicht Denken Will hat er über nichts anderes mehr geweint als über eben dieses Geschehnis. Schon merkwürdig, dass ihm jetzt die Tränen kommen, denkt er, so viel später, und dass Arne Halldis mit seiner Musik der Auslöser dafür ist.
    Andererseits ist es nicht wirklich verwunderlich, dass es Musik ist, die ihn zum Weinen gebracht hat, denn wenn er ehrlich mit sich sein soll, hat er fast ein bisschen Lust, sich wieder ans Klavier zu setzen. Er weiß nur nicht, ob er sich traut.
    Als der Applaus allmählich verebbt und es still über ihm wird, schließt er seine Wohnungstür auf. Er tauscht die Batterien in den Rauchmeldern aus, setzt sich aufs Sofa und klappt den Bildschirm seines Laptops hoch, der sofort aus seinem Ruhezustand erwacht. Es dauert ein paar Sekunden, bis der Rechner die Internetverbindung hergestellt hat, dann loggt Henning sich in FireCracker 2.0 ein. Kurz darauf meldet sich 6tiermes7 .
    > 6tiermes7:
    Jetzt bin ich aber gespannt. Wie ist es gelaufen?
    > MakkaPakka:
    Wie erwartet. Sie hat nichts zugegeben.
    > 6tiermes7:
    Cleveres Mädchen.
    > MakkaPakka:
    Das cleverste, das mir je begegnet ist.
    > 6tiermes7:
    Auf dem Band hast du auch nichts? Nichts, was wir verwerten könnten?
    > MakkaPakka:
    Ich habe mir die Aufnahme noch nicht angehört, aber ich bezweifle es.
    > 6tiermes7:
    Okay. Du hast getan, was in deiner Macht stand. Lass es uns dabei belassen.
    > MakkaPakka:
    Ich werde es versuchen.
    > 6tiermes7:
    Du hast hoffentlich nicht vor, noch weiterzugraben?
    Henning denkt nach und starrt auf den blinkenden Cursor. In der letzten Woche hat sich einiges getan. Drei Menschen sind tot und Familien für immer zerstört. Trotzdem hat ihm die Arbeit gutgetan. Auch wenn Anette nicht gestanden hat und Hassans Drohungen sich nicht ohne Weiteres verdrängen lassen, hat Henning sich selbst bewiesen, dass noch mit ihm zu rechnen ist. Die kleinen grauen Zellen sind wieder aufgewacht.
    Er schaut auf seine Finger, ehe er das formuliert, was so lange tief in seinem Innern genagt hat. Er ist sich im Klaren darüber, dass es keinen Weg zurück gibt, wenn er die Worte erst einmal geschrieben hat. Damit gibt er sich selbst den Startschuss.
    Dr. Helge würde mir wahrscheinlich raten, noch etwas zu warten, denkt er, bis ich ganz sicher sagen kann, dass ich dazu bereit bin. Aber ich habe keine Zeit zu warten. Es ist schwer vorherzusagen, ob Yasser Shah geschnappt wird oder nicht oder ob Mahmoud Marhonis PC -Beweise und seine Freilassung zur Folge haben, dass Hassan und Co. à la Robert de Niro einfach verschwinden, wenn ihnen der Boden unter den Füßen zu heiß wird. Keiner kann sagen, ob ich bald wieder durch die Straßen spazieren kann, ohne
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