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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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haben«, sagt er und sieht Anette in die Augen. Das vorsichtige Lächeln wird von einem nervösen Zucken im Mundwinkel attackiert. Offensichtlich hat der Satz sie überrascht, und genau das ist seine Absicht gewesen. Er wartet, dass der dramatische Effekt vollkommen ist.
    »Hm?«
    »Ich habe nicht ganz verstanden, wieso Sie plötzlich so entgegenkommend und hilfsbereit waren. Wieso Sie mich während des Gewitters so bereitwillig auf den Ekeberg chauffiert haben. Zu diesem Zeitpunkt wusste außer seinen Eltern noch niemand, dass Stefan tot ist. Sie aber schon. Sie wussten es, weil Sie die Letzte waren, die ihn lebend gesehen hat. Und Sie wussten es, weil Sie dafür gesorgt haben, dass er sich das Leben nimmt.«
    Sie hebt die Augenbrauen.
    »Auf was zum Teufel wollen Sie …«
    »Sie haben Epilepsie, nicht wahr?«
    Anette verlagert das Gewicht von einem Bein aufs andere.
    »Darf ich einen Blick in Ihren Rucksack werfen?«
    »Was? Nein!«
    »Epileptiker bekommen häufig ein Medikament verschrieben, das Orfiril heißt. Ich gehe davon aus, dass Sie eine Schachtel oder ein Glas Orfiril in Ihrem Rucksack haben. Oder ist das Pillenglas womöglich leer?«
    Sie antwortet nicht, sieht ihn aber an, als hätte er sie zutiefst beleidigt.
    »Die Orfiril-Tabletten sehen diesen hier zum Verwechseln ähnlich«, sagt er und zieht eine Tüte Knott aus der Anzugjacke. Er schüttelt eine weiße Pastille heraus und dreht sie mit der leichten Wölbung nach oben.
    »Stefan hatte seinen Eltern gegenüber die Katze aus dem Sack gelassen, sie beide hätte eine lange Strafe erwartet. Da ist Ihnen die Idee gekommen, Stefan allein in die Wüste zu schicken. Oder war das von Anfang an so geplant?«
    »Was reden Sie da für einen Stuss?«
    »Ich bin auf so eine hier getreten, als ich Stefan tot in seinem Bett gefunden habe«, sagt er und hält ihr die Hand mit dem weißen Knott hin. »Orfiril, eingenommen mit Alkohol, ist ein tödlicher Mix. Aber nur Stefan hat Orfiril genommen. Sie selber haben eine Handvoll Knotts geschluckt. Sie lieben es, alle auf einmal in den Mund zu stecken. Das Dumme bei Knotts ist nur, dass schnell mal einer aus der Tüte rutscht oder nicht im Mund bleiben will.«
    Anette schüttelt den Kopf und hebt abwehrend die Hände.
    »Das wird mir jetzt echt zu blöd. Ich gehe.«
    »Ich glaube, ich weiß auch, wieso Sie mich zum Ekeberg gefahren haben«, sagt er und geht hinter ihr her. Sie bleibt stehen und dreht sich zu ihm um. »Sie waren nervös. Sie wussten, dass Stefan geplappert hat, und hatten Angst, er könne seinen Eltern erzählt haben, was wirklich passiert ist und wer außer ihm noch an dem Mord und dessen Planung beteiligt war. An jenem Nachmittag konnten Sie Stefan nicht danach fragen, er hätte sonst womöglich gemerkt, was Sie im Schilde führten und dass der Selbstmordpakt von Ihrer Seite her nicht ehrlich gemeint war. Sie haben mir angeboten, mich zu fahren, um herauszufinden, wie viel die Eltern wussten, und deshalb sind Sie auch plötzlich in dem Zelt aufgetaucht.«
    Anette stemmt die Hände in die Seiten. Sie will etwas sagen, hält aber inne.
    »Was für eine Vorstellung«, fährt er fort. »Sie haben schnell begriffen, dass Ingvild Foldvik keine Ahnung hatte, wer Sie sind. Damit hatten Sie sicheren Boden unter den Füßen. Und Sie wussten, dass Ingvild vergewaltigt wurde, das hat Stefan Ihnen erzählt. Vermutlich wussten Sie auch, dass sie einen Selbstverteidigungskurs besucht hat, eine Stun Gun besitzt und trainiert hat, schnell zu reagieren, sobald jemand hinter ihr auftauchte, so wie Sie im Zelt. Normalerweise ist es einfach eine nette Geste, einem die Hand auf die Schulter zu legen, in Höhe der Halsbeuge, um Mitgefühl auszudrücken. Aber Sie haben das gemacht, weil Sie genau wussten, wie Ingvild reagieren würde, dass sie Sie mit einem Elektroschocker ausschalten würde. Und gibt es etwas Geeigneteres, die eigene Unschuld zu demonstrieren, als selbst zum Opfer zu werden?«
    Anette wendet den Blick ab. Aber er hat die Wahrheit in ihren Augen gesehen, auch wenn sie sie zu verbergen versucht. Er ist sicher, dass sie mehr als einmal bei den Foldviks zu Hause war. Deshalb hat sie die Gardinen zugezogen. Sie weiß, dass man von der Straße einen guten Einblick in die Wohnung hat oder aus den Wohnungen auf der anderen Seite und dass die Foldviks neugierige Nachbarn haben. Jedes Mal, wenn im Treppenhaus eine Tür aufgeht, steckt Frau Steen ihren Kopf zur Tür heraus. Das war auch der Grund, weshalb sie die
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