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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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ist, wie Sie ganz richtig sagen, kein Beweis an sich. Aber erinnern Sie sich an den Oderud-Fall. Vier Menschen werden zu zig Jahren Gefängnis verurteilt – wegen einer banalen Wollsocke.«
    Anette sagt nichts. Er sieht sie an und versucht, sich für das kühle Lächeln zu revanchieren.
    » Was hat es für einen Sinn, ein Genie zu sein, wenn keiner es merkt? «, sagt er und ahmt ihre Stimme nach. »Jeder Mensch wünscht sich, in welcher Form auch immer, Anerkennung für das, was er tut. Wir wollen Applaus. So sind wir nun einmal gestrickt. Darum haben Sie mir auch das Drehbuch gegeben. Sie wollten, dass ich es verstehe . Und das tue ich. Ich verstehe, dass Sie alles genauestens geplant haben, und ich bin schwer beeindruckt. Aber Applaus werden Sie dafür keinen bekommen. Weder von mir noch von irgendwem sonst.«
    Anette steht da und schaut ihn an. Henning dreht sich um und sieht die ersten Trauergäste aus der Kirche kommen.
    »Wie Sie schon sagten, Anette, jetzt beginnt die Hysterie.«
    Sie lacht über seine Bemerkung.
    »Wow«, sagt sie, schüttelt den Kopf und nickt abwechselnd. Dann tritt sie wieder näher an ihn heran, nimmt den weißen Knott aus seiner Hand und steckt ihn in den Mund.
    »Wissen Sie, wer mir beigebracht hat, dass es am besten ist, alle auf einmal in den Mund zu nehmen?« Sie lutscht demonstrativ an der Pastille. »Clever, wie Sie sind, finden Sie das bestimmt heraus«, sagt sie, ohne eine Antwort von ihm zu erwarten. Dann gibt sie sich einen Ruck und geht mit einem Lächeln auf den Lippen in Richtung der Trauergäste auf dem Weg zum Grab an ihm vorbei. Er folgt ihr mit dem Blick, als sie über den Rasen spaziert, vorbei an dem Trauerzug. Sie nickt einzelnen Leuten zu, schließt sich der Gruppe aber nicht an, sondern geht weiter zur Vorderseite der Kirche. Sie hat keine Eile. Als gäbe es nichts auf der Welt, worüber sie sich Sorgen machen müsste.
    Vielleicht hat sie ja recht, denkt er, als Anette aus seinem Blickfeld entschwindet und sich der Friedhof zunehmend mit schwarz gekleideten Menschen füllt. Es ist durchaus möglich, dass ihr nie nachzuweisen sein wird, dass sie Ereignisse in Gang gesetzt und dirigiert hat, die am Ende zwei Menschen das Leben gekostet haben. Denn sie hat nie etwas gestanden, weder jetzt noch in dem Zelt auf dem Ekeberg, und die Beweise sind mehr als dürftig.
    Aber wie sagte Jarle Høgseth immer: Verbrechen werden selten als hübsch in Silberfolie und mit Schleifen verschnürtes Päckchen im Polizeipräsidium abgegeben. Das kommt nur manchmal vor. Dann sprechen die Beweise eine klare Sprache, die Täter gestehen, entweder von sich aus oder aufgrund der Beweise, die während der Verhöre angebracht werden. Aber meistens werden die Täter erst in gerichtlichen Auseinandersetzungen überführt, in denen die Behauptungen der Anklage im scharfen Kontrast zu den Erklärungen des Angeklagten stehen. So ist es, und so wird es immer sein.
    Die Wahrheit ist bei ihm aber nicht auf verlorenem Posten, nicht nachdem er sie in Anettes Eisblick gesehen hat. Im Laufe einer Ermittlung kann viel geschehen. Neue Beweise können auftauchen. Oder neue Zeugen, deren Aussagen ein ganz neues Licht auf Anettes Taten werfen. Sie wird viele Fragen beantworten müssen, und es ist nicht leicht, auf komplexe Fragen immer und immer wieder exakt die gleichen Antworten zu geben, wie intelligent man auch ist.
    Er bleibt während der gesamten Bestattung auf dem Friedhof. Aber er hebt nicht einmal den Blick, hört nicht, was gesagt wird, und bekommt nur ganz leise das Lied mit, das sie singen:
    Hilf mir, Gott, dieses Lied zu summen,
    bis mein Herz es besser kann,
    nur ein Tag, nur einen Augenblick,
    bis in das verheiß’ne Land ich komm.
    Er verdrängt die Erinnerungen und den Schmerz, obgleich er Jonas die ganze Zeit über vor sich sieht. Es ist, als könnte er sich in diesem Moment zum ersten Mal wirklich verabschieden, als wäre er erst jetzt dafür bereit und empfänglich. Damals ging das noch nicht, weil er es nicht wollte, nicht übers Herz brachte, weil er nicht akzeptieren konnte, dass Jonas ihn nie mehr morgens wecken würde, viel zu früh, sich nie mehr an ihn schmiegen und kuscheln, kuscheln, kuscheln würde, bis das Kinderprogramm begann.
    Warum ist es nur so schwer, dankbar für das zu sein, was ich bekommen habe, denkt er, für die Erinnerungen an jeden einzelnen Tag, an jeden Augenblick, anstatt sich in einer Zukunft zu verlieren, die es nie geben wird. Wenn ich es schaffe zu denken,
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