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Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Titel: Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Autoren: Michael Hübner
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bog auf die Hauptstraße ein, die geradewegs durch die kleine Stadt führte und sie wie ein Fluss in zwei Ufer teilte. Erst jetzt schaltete er den einen Scheinwerfer ein, der noch intakt war, und folgte dem Verlauf einer lang gezogenen Rechtskurve.
    War er tot? , fragte er sich. War der Kerl auch wirklich tot?
    Natürlich war er tot. Teile seines verdammten Schädels klebten an der Scheibe. Niemand hätte diesen Aufprall überlebt!
    Aber du bist nicht sicher. Du hättest dich vergewissern müssen.
    Das war doch lächerlich. Er hatte genug Erfahrung, um zu wissen, wann jemand tot war und wann nicht. Und dieser Kerl war tot!
    Er suchte im Rückspiegel nach Verfolgern. Doch da waren nur spärlich beleuchteter Asphalt und ein Teil seines Gesichts. Eine dunkle Schirmmütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte, verdeckte die schwarzen Haare, und der aufgeklebte Oberlippenbart ließ seine südländischen Züge wenigstens fünf Jahre älter erscheinen. Es war nur eine spärliche Tarnung, doch sie würde genügen. Den Rest würde die Dunkelheit verbergen. In einem Provinznest wie diesem war um diese Zeit ohnehin nicht mit Zeugen zu rechnen. Irgendwie bedauerte er das sogar, denn üblicherweise musste er sich mehr Mühe geben, sein Äußeres zu verändern. Er konnte sich älter oder jünger oder unsichtbar machen, wobei ihn stets eine fast kindliche Euphorie überkam, die beinahe die Lust am Töten überwog. Aber vermutlich war es die Kombination aus beidem, die diesen Rausch heraufbeschwor. Dieses freudige Prickeln, wie es Schauspieler kurz vor ihrem Auftritt verspüren. Nur lag sein Bestreben nicht darin, die Leute zu unterhalten, sondern ihnen eine Lektion zu erteilen, und zwar eine endgültige.
    Du hättest dich vergewissern müssen!
    Zum Teufel damit! Sein verdammter Perfektionismus brachte ihn noch um den Verstand. Aber das war nun einmal nötig, denn ein gelungener Auftritt hing von guter Vorbereitung, exaktem Timing und präziser Ausführung ab.
    Sein Künstlername: Mohamed. Seine Vorliebe: Dramen mit tödlichem Ausgang. Doch trotz seiner außergewöhnlichen Begabung blieb ihm gebührende Anerkennung versagt. Ein Aspekt seiner Arbeit, der ihm zunehmend missfiel.
    Er fuhr an alten Fachwerkhäusern und parkenden Autos vorbei, die zu beiden Seiten die schmale Straße säumten. Noch immer war niemand zu sehen. Es war fast schon zu leicht. Das Einzige, was ihm jetzt noch gefährlich werden konnte, war eine Begegnung mit einer Polizeistreife. Doch auch für diesen unwahrscheinlichen Fall hatte er vorgesorgt. Die Schnellfeuerwaffe, die er jederzeit griffbereit mit Klebeband an der Lehne des Beifahrersitzes angebracht hatte, würde ihm die nötige Durchsetzungskraft verschaffen.
    Die Häuserreihen lichteten sich, und erst als das gelbe Ortsschild der kleinen Westerwälder Gemeinde Hillscheid am Seitenfenster vorbeiraste, entspannte er sich. Der Vorhang war gefallen, die Vorstellung vorbei. Und sie war ihm unter den gegebenen Umständen gut gelungen. Nicht perfekt, aber zufriedenstellend. Und manchmal musste das eben reichen. Es hatte wie ein Unfall aussehen sollen. Das war die einzige Bedingung gewesen, und er hatte sie erfüllt.
    Vor ihm erstreckte sich ein riesiges Waldgebiet, in dem sich die Straße im Nichts verlor. Ein düsteres Lächeln umspielte seine Lippen, und in seinem Innern hörte er den tosenden Applaus eines unsichtbaren Publikums.

2
     
     
     
     
     
     
     
    E twa eineinhalb Stunden später hielt ein silberfarbener Opel an der Unfallstelle. Der Fahrer blieb noch einige Minuten sitzen und betrachtete das geschäftige Treiben im künstlichen Licht der Straßenbeleuchtung. Polizeiwagen säumten die Bordsteine, und etwa ein Dutzend Beamte in Uniform und Zivil waren dort zugange. Schaulustige aus den umliegenden Häusern hatten sich in kleinen Gruppen am Straßenrand versammelt oder betrachteten das Geschehen aus den Fenstern ihrer Wohnungen. Blaulicht kreiste über ihre Gesichter und an den Häuserwänden entlang und tanzte durch die Bäume der Vorgärten.
    Sven Becker hatte auf all das ebenso viel Lust wie auf eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Seine Kopfschmerzen waren schlimmer geworden, was aber durchaus Vorteile hatte. Denn durch den pochenden Schmerz, der wie eine wütende Katze in seinen Ohren fauchte, hörte er die Stimme in seinem Kopf nicht mehr. Die Stimme der Vergangenheit, die ständig von den guten Zeiten schwärmte und ihn daran erinnerte, wie schlecht die Gegenwart war. Seit acht Tagen
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