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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer
Autoren: Constanze Kleis
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werfen, das Essen im Bett verschmieren, sich ständig einkoten. Die Familie, die im selben Haus lebe, kümmere sich keinen Deut um die Seniorin, erwarte aber, dass Ursula auch für sie alle putzt, aufräumt, bügelt. Das typische Risiko der Schwarzarbeiterin also: im rechtsfreien Raum wie eine Leibeigene behandelt zu werden. Sie brauche aber das Geld, sagt Weronika, und Ursula nickt heftig. Ich versichere Weronika, dass Ursula bei uns geregelte Arbeitszeiten haben wird, ein eigenes Zimmer mit Fernseher sowieso. Außer meinem Vater wäre immer auch entweder meine Schwester oder ich da. Und: Wir denken darüber nach, noch eine zweite Frau zu engagieren, damit sich auch nachts jemand um meine Mutter kümmern kann. Wir hätten da aus einer anderen Quelle noch eine Möglichkeit. Nein, nein, interveniert Ursula, da hätte sie selbst eine Empfehlung, eine Freundin, die sie mitbringen könne. » SÄÄÄR guttte Frau!«.
    Ursula lacht und zeigt dabei einige Goldzähne und ein paar Zahnlücken. Nein, kein Problem. Nicht die schwerkranke Mutter, nicht die Nachtwachen und auch nicht, dass sie einer ihr völlig fremden Frau so nahe kommen soll wie sonst kaum den engsten Angehörigen. Ganz sicher würde sie in zwei Wochen vor der Haustür meiner Eltern stehen. Ja, mit ihrer Freundin. Kein Problem auch das mit der Sprache. Sie verstehe ja viel, viel mehr, als sie sagen könne, beteuert sie, in wirklich sehr kargem Deutsch. Dabei lässt sie wieder und wieder ihre Goldzähne blitzen. Gar nichts ist ein Problem, und deshalb ist eigentlich in zehn Minuten alles besprochen. Das finde ich jetzt wieder schwierig. Aber es fällt mir keine einzige weitere Frage ein für jemand, der auf alles nur eine Antwort hat: »Kein Problem!« Ich denke, ja, vielleicht hat sie ja recht. Schon weil weder sie noch ich noch mehr Probleme gebrauchen können. Vielleicht sind Probleme sowieso einfach auch überbewertet. Ich denke an meinen Vater, der in Polen, damals noch Deutschland, seine Kindheit verbracht hat und vielleicht noch ausreichend polnischen Sprachschatz zusammenkratzen könnte, und falls nicht, dass es auch so irgendwie gehen wird. Ich habe schon über den Kauf neuer Stiefel länger nachgedacht als über die Entscheidung für Ursula und für wen immer sie in zwei Wochen auch mitbringen wird. Trotzdem bin ich richtig froh. Ich habe das Gefühl, genau das Richtige getan zu haben. Nachdem mich Martin am Bahnhof abgesetzt hat, rufe ich meine Schwester an: »Ich habe eine und sie kennt noch eine andere!« »Wie wollen wir das eigentlich alles bezahlen?«, fragt sie mich.
    1.800 Euro im Monat werden für Ursula und ihre Freundin fällig. Eine Summe, die wir uns nicht leisten können. Das gilt so allerdings auch für den Kostenvoranschlag, den der Pflegedienst uns geschickt hat: Gesamtsumme Pflegeleistungen 2.221,31 Euro, plus 144,15 »Investitionskosten«. Das scheint sehr viel zu sein. Andererseits sehen wir, wie sich die Einzelposten läppern: 31 Mal »kleine Körperpflege abends« für 12,35 Euro oder Lagerung mittags und abends – das sind im Monat 62 Mal 4,75 Euro, also 294,50 Euro. 69 Mal Wegepauschale von 4,76 Euro macht allein schon 328,44 Euro. Kämmen ist gar nicht drin, kostet übrigens 2,38 Euro und kann ja von uns erledigt werden. Ebenso wie die »hauswirtschaftliche Versorgung« (Preis pro 5 Minuten 1,30 Euro). Die Pflegeversicherung würde 1.550 Euro übernehmen, sollte Mutter irgendwann einmal Pflegestufe III erhalten. Bis dahin gilt Pflegestufe I . Damit stehen uns für den Pflegedienst (nach den vor 2012 geltenden Tarifen) lediglich 420 Euro zur Verfügung. Unsere Berechnung: Selbst mit Pflegestufe III müssten wir noch knapp 1.000 Euro selbst finanzieren, um den Pflegestandard zu halten, den Mutter benötigt und der es uns erlaubt, weiter unseren Berufen nachgehen zu können. Mit Ursula und ihrer Freundin braucht der Pflegedienst allenfalls noch zwei Mal am Tag zu uns zu kommen. Damit hätten wir schon mal ein paar hundert Euro an Eigenbeteiligung gespart. Von Geld, das man nicht hat, kann man auch nichts sparen! Der gesamte Pflegekomplex wird von so vielen Milchmädchenrechnungen begleitet, da ist unsere nicht mal die schlechteste. Meine Schwester, mein Vater und ich sind uns einig: Die Zeit, die uns mit Mutter noch bleibt, lässt sich sowieso nicht beziffern. Irgendwie werden wir das Geld schon auftreiben.
    Und weil es jetzt sowieso egal ist, fahren wir die Tage darauf erst mal zu Ikea. Wir brauchen dringend
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