Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Steinbock-Spiele

Steinbock-Spiele

Titel: Steinbock-Spiele
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
füllten ihr Gehirn nicht mehr mit schrecklichem Lärm. Sie begann zu frösteln, nicht aus Angst, sondern nur vor Kälte, und zupfte an ihrer feuchten Tunika, versuchte ihre Nacktheit zu bedecken. Schmelzender Schnee hinterließ heiße, klamme Spuren an Brüsten und Bauch. Ein Glorienschein aus Dampf umgab sie. Ihr Herz hämmerte.
    Sie fragte sich, ob das, was sie erlebt hatte, eine echte Berührung mit Nicholsons Seele, oder vielmehr nur ein Trick von Tom, ein simulierter Kontakt gewesen war. War es Tom denn möglich, eine Verbindung zwischen zwei nichttelepathischen Gehirnen herzustellen? Vielleicht hatte Tom das alles selbst fabriziert, mit Bildern, die er sich aus Nicholsons Buch geborgt hatte.
    In diesem Fall mochte es für sie noch Hoffnung geben.
    Eine Selbsttäuschung, das wußte sie. Eine Phantasievorstellung, dem verzweifelten Optimismus des Hoffnungslosen entsprungen. Aber nichtsdestoweniger –
    Sie fand den Türgriff, kehrte zurück zur Party. Ein Windstoß begleitete sie und fegte Schnee mit hinein. Leute starrten sie an. Sie war wie der Tod, der beim Festmahl erscheint. Wie ein Hund schüttelte sie die Schneeflocken ab. Ihre Kleidung war naß und klebte an der Haut; sie hätte ebensogut nackt sein können.
    »Sie armes, frierendes Ding«, sagte eine Frau. Sie zog Nikki in eine enge Umarmung. Es war die Frau mit dem scharfen Gesicht, die glotzäugige, in der Flasche entstandene Braut ihres eigenen Vaters. Ihre Hände glitten schnell über Nikkis Körper, streichelten ihre Brüste, berührten ihre Wange, ihren Unterarm, ihre Lenden. »Komm mit mir hinein«, säuselte sie. »Ich mache dich warm.« Ihre Lippen streiften Nikkis Mund. Eine spielerische Zunge suchte die ihre. Einen Augenblick lang ergab sich Nikki der Umarmung, weil sie die Wärme brauchte. Dann machte sie sich los.
    »Nein«, sagte sie. »Ein andermal. Bitte.« Sie befreite sich und ging durch den großen Raum. Eine endlose Reise. Als durchquere man die Sahara mit dem Sprungstock. Stimmen, Gesichter, Gelächter. Eine Trockenheit in ihrer Kehle. Dann stand sie vor Nicholson.
    Jetzt oder nie.
    »Ich muß mit Ihnen reden«, sagte sie.
    »Gewiß.« Seine Augen waren unbarmherzig. Kein Zorn in ihnen, nicht einmal Geringschätzung, nur eine unfaßbare Geduld, viel erschreckender als Zorn oder Verachtung. Sie wollte sich vor diesem kühlen, ruhigen Blick nicht beugen.
    Sie sagte: »Hatten Sie vor einigen Minuten ein seltsames Erlebnis, ein Gefühl, daß jemand – nun, in Ihr Gehirn blickte? Ich weiß, es klingt albern, aber –«
    »Ja. Das ist geschehen.« So ruhig. Wie konnte er seinem Mittelpunkt so nah bleiben? Dieses unbewegte Auge, dieses einzigartig in sich ruhende Selbst, alles wahrnehmend – das Lamakloster, das Sklavendepot, der Eisenbahnzug, alle vergangene, alle kommende Zeit – wie vermochte er so gelassen zu bleiben? Sie wußte, daß sie selbst solche Ruhe niemals lernen würde. Sie wußte, daß er es wußte. Er kennt sich wirklich aus mit mir. Sie bemerkte, daß sie seine Backenknochen betrachtete, seine Stirn, seine Lippen. In seine Augen blickte sie nicht.
    »Sie haben ein falsches Bild von mir«, sagte sie.
    »Es ist kein Bild«, sagte er. »Was ich habe, sind Sie.«
    »Nein.«
    »Treten Sie sich gegenüber, Nikki. Wenn Sie dahinterkommen, wo Sie hinblicken müssen.« Er lachte. Sanft, aber sie war vernichtet.
    Dann etwas Seltsames. Sie zwang sich, in seine Augen zu starren und spürte ein Umspringen der Wahrnehmung von einem Modus in einen anderen, und er verwandelte sich in einen alten Mann. Die Maske beständiger früher Reife löste sich auf, und sie sah die erschreckenden gelblichen Augen, das Labyrinth von Furchen und Gruben, die zahnlosen Kiefer, die sabbernden Lippen, die schlaffe Kehle, das Selbst unter dem Gesicht. Tausend Jahre, tausend Jahre! Und jeder Augenblick dieser tausend Jahre war sichtbar.
    »Sie sind alt«, flüsterte sie. »Sie ekeln mich an. Ich möchte nicht sein wie Sie, nicht um alles in der Welt!« Sie wich zitternd zurück. »Ein alter, alter, alter Mann. Alles Maskerade!«
    Er lächelte.
    »Ist das nicht erschütternd?«
    »Sie oder ich? Sie oder ich! «
    Er antwortete nicht. Sie war verwirrt. Als sie fünf Schritte von ihm entfernt war, kam wieder ein Bewußtseinssprung, eine zweite Phasenverschiebung, und plötzlich war er wieder er selbst, straffhäutig, aufrecht, dem Anschein nach Mitte Dreißig. Eine Kugel des Schweigens hing zwischen ihnen. Die Wucht seiner Zurückweisung war überwältigend.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher