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Steinbock-Spiele

Steinbock-Spiele

Titel: Steinbock-Spiele
Autoren: Robert Silverberg
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irgendeines Malabar-Dialekts im Kontrapunkt zu fließendem, spottendem Portugiesisch. Segeln wir jetzt mit Vasco da Gama? Vielleicht. Und dann eine graue teutonische Straße, winddurchfegt, und mittelalterliche, freudlose Lutheranergesichter blicken finster aus bleigefaßten Fenstern. Und dann die Wüste Gobi mit Reitern und Lagerfeuern und schwarzen Zelten. Und dann New York, unverwechselbar New York City, mit kantigen schwarzen Automobilen, die zwischen den stumpfen Wolkenkratzern wie glänzende Käfer dahinhuschen, eine Szene aus einem Stummfilm. Und dann. Und dann. Überall, alles, zu aller Zeit, allerorten, ein unzusammenhängender Strom von Ereignissen, aber stets die Klarheit des Sehens, die festgefügte Wahrnehmung, der massive Geist im Zentrum, die unerschütterliche Identität, das unwandelbare Selbst –
    – mit dem ich unauflösbar verflochten bin –
    Es gab kein ›Ich‹, es gab kein ›Er‹, es gab nur den einen, immerwährend erkennenden Standpunkt. Aber schlagartig spürte sie eine Veränderung des Brennpunkts, eine wegführende Wirkung, eine Trennung von Selbst und Selbst, so daß sie ihn anschaute, als er seine vielen Leben lebte, ihn von außen sah, deutlich verfolgte, als er die Persönlichkeit wechselte, wie andere seine Kleidung, Bärte und Schnurrbärte wachsen ließ, sie abrasierte, sein Haar kurz schor, sein Haar lang wachsen ließ, neue Moden übernahm, Sprachen lernte, Dokumente fälschte. Sie sah ihn in all seinen tausend Jahren von Verkleidungen und Tarnungen, sah ihn wirklich und vereinigt und konzentriert unter seinen notwendigen Masken – und sah ihn, wie er sie sah –
    Augenblicklich riß der Kontakt ab. Sie taumelte. Arme fingen sie auf. Sie riß sich von dem lächelnden, blonden Mann mit dem vollen Gesicht los und murmelte: »Was haben Sie getan? Sie haben mir nicht gesagt, daß Sie mich ihm zeigen würden.«
    »Wie kann es sonst eine Verbindung geben?« fragte der Telepath.
    »Sie haben es mir nicht gesagt. Sie hätten es mir sagen sollen.« Alles war verloren. Sie konnte es nicht mehr ertragen, im selben Raum mit Nicholson zu sein. Tom griff nach ihr, aber sie stolperte an ihm vorbei, trat den Leuten auf die Füße. Sie zwinkerten ihr zu. Jemand streichelte ihr Bein. Sie zwängte sich durch unwahrscheinliche Laokoongruppen, drei Frauen und zwei Diener, fünf Männer und ein Tischtuch. Eine Glastür, ein schimmernder Silbergriff: Sie drückte ihn nieder. Hinaus auf die Terrasse. Die Reinheit des Sturms mochte sie reinigen. Hinter ihr ein schwaches Ächzen, ein paar schrille Schreie, verärgerte Vorhaltungen: »Zumachen!« Sie warf die Tür zu. Allein in der Nacht, siebenundachtzig Stockwerke über der Straße, bot sie sich dem Sturm dar. Ihre hauchdünne Tunika schützte sie nicht. Schneeflocken brannten auf ihren Brüsten. Ihre Brustwarzen wurden hart und richteten sich auf wie flammende Leuchttürme, bohrten sich in den dünnen Stoff. Der Schnee versengte ihre Kehle, ihre Schultern, ihre Arme. Tief unten wirbelte der Wind frisch gefallene Kristalle zu Spiralgalaxien auf. Die Straße war unsichtbar. Thermalwirren brachten Aufwinde, die den Rand ihrer Tunika packten und von ihrem Körper wegpeitschten. Glühende, kalte Hagelkörnchen wurden in ihre nackten, blassen Schenkel getrieben. Sie stand mit dem Rücken zur Party. Bemerkte sie dort jemand? Würde jemand auf den Gedanken kommen, sie wolle Selbstmord machen, und edel herausstürmen, um sie zu retten? Steinböcke begingen keinen Selbstmord. Sie mochten damit drohen, ja, sie mochten sich selbst ganz ernsthaft versichern, daß sie es wirklich tun würden, aber es war nur ein Spiel, nur ein Spiel. Niemand kam zu ihr. Sie drehte sich nicht um. Sie umklammerte das Geländer und kämpfte darum, sich zu beruhigen.
    Sinnlos. Nicht einmal die bitterkalte Luft konnte helfen. Frost in ihren Wimpern, Schnee auf ihren Lippen. Der Anhänger, den Byrne ihr gegeben hatte, flammte zwischen ihren Brüsten. Die Luft war weiß, mit einem pulsierenden, grünen, inneren Glühen. Es versengte ihr die Augen. Sie war vom Mittelpunkt abgerutscht und fand sich nicht zurecht. Sie fühlte immer noch, wie sie durch die Jahrhunderte irrte, hin und her auf der Bahn von Nicholsons endlosem Leben. Was für ein Jahr ist das? Ist es 1386, 1912, 1532, 1779, 1043, 1977, 1235, 1129, 1836? So viele Jahrhunderte. So viele Leben. Und doch immer das eine wahre Selbst, unverändert, unveränderbar.
    Mit der Zeit ließ der Nachhall nach. Nicholsons endlose Epochen
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