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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe
Autoren: Sofi Oksanen
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Abstand, den ich zu einem anderen Menschen brauche, ist sehr konkret. Ich brauche vielleicht nicht einmal abzunehmen, um zu flüchten. Die Zeit bliebe stehen. Die Waage bliebe stehen. Würde mir das gelingen? Wäre ich dazu in der Lage? Die Zeit anzuhalten, die Uhr und die Waage?
    Aber ich bin ja Gott. Ich muss das können.
    Ich warte.
    Die Götter zögern nicht. Mein Fünfzig-Kilo-Körper zögert nicht, wer zögert, ist nur meine Psyche. Ich befehle meinem Körper, erfolgreich zu sein. Er braucht jetzt nicht zu flüchten. Aber er muss die Sehnsucht nach diesen Gesprächen ersticken und das unangenehme Gefühl, dass es da im Hintergrund etwas Ungutes gab. Und das kann ich auf keine andere Weise als durch Abnehmen und Erbrechen.
    Ich befehle meinem Körper, zu warten und sein Gewicht zu halten.
    Aber wie viel Kraft hat ein Körper von fünfzig Kilo? Wie lange vermag der Einwohner eines Hungerlandes zu prahlen? Wie groß ist die Kraft, mit der ein KZ – Mädchen seinen Bewacher angreift, wie weit tragen die Streichholzbeine eines sibirischen Gefangenen? Doch hoffentlich nicht dorthin, wo es Nahrung gibt?

ICH
HABE
NICHT die Mittel und nicht die Kilos, um zu warten. Ich muss zur nächsten Haltestelle, in die nächsten Arme, zu den nächsten Mündern. Wilen ist kein so einzigartiger Mensch, dass ich mich nur ihm gegenüber öffnen könnte. Es gibt noch andere. Nicht wahr?
    Und diesmal würde ich mich nicht mit einer Haltestelle, mit einer Stippvisite, einem Augenblick begnügen, jetzt möchte ich in einen Hafen, auf ein Festland, für längere Zeit. Ich würde zwar von Haltestelle zu Haltestelle wandern und an jeder Haltestelle sofort denselben Satz sagen, aber dann, wenn ich vergessen würde, ihn als Erstes zu sagen, dann würde ich im Hafen sein. Wenn es so sein würde, dass ich auch über anderes sprechen will, dann wäre ich am Ziel. Davor müsste ich ihn als Erstes zum zweiten, dritten, hundertsten Mal sagen, so lange, bis niemand mehr bemerken würde, dass mir das nicht angeboren ist, sondern eine grundlegende Arbeit erforderlich war, die mein ganzes Leben dauerte, so lange, dass ich darin bis an mein Lebensende gut sein werde.
    Meine Mutter ist aus Estland.
    Aber du sprichst doch ganz gut Finnisch, das glaube ich nicht.
    Meine Mutter ist eine Estin.
    Hat sie auch so einen komischen Namen wie all die anderen, wie waren die noch, Raivo und Kalju und – an diesenNamen kann man ja nicht einmal erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, weil bei denen auch die Frauen Männernamen haben, Kai und Janne.
    Meine Mutter kommt ursprünglich aus Estland.
    Kannst du gut Russisch?
    Meine Mutter stammt aus Estland.
    Das ist aber schön. Wir haben dort auch Bekannte, so eine Familie in Pärnu, das ist so eine richtig hübsche Stadt an der Küste, die besuchen wir immer wieder mal und kaufen da ein. Wir haben da für die ganze Familie Brillen gekauft, und dann Trainingshosen mit Knöpfen auf dem Markt und Vitamine und Medikamente und all so was. Obwohl man sich da ein bisschen so fühlt, dass man gar nicht recht weiß, wie, weil es überall so unheimlich dreckig ist und –
    Meine Mutter ist Estin.
    Mein Vater hat eine Freundin von da. Das darf ich nur nicht Mutter erzählen.
    Meine Mutter ist Estin.
    Na, dann ist es ja kein Wunder, dass du so fraulich bist. Die finnischen Frauen, weißt du, die verstehen es nicht, fraulich zu sein.
    Meine Mutter kommt aus Estland.
    Häh?
    Meine Mutter ist Estin.
    Tatsächlich? Ganz im Ernst?
    Meine Mutter ist Estin.
    Ein Schnarchen.

    Meine Mutter ist ihrer Herkunft nach Estin.
    Ist das Essen schon fertig?
    Aber das alles macht mir nichts mehr aus. Kein einziges falsches Wort, kein Tonfall schafft es, mir den Brustkorb zusammenzupressen, mich in die Flucht zu schlagen, nicht einmal rot werde ich. Mein Atem geht in normalem Rhythmus, meine Stimme klingt so, wie wenn ich irgendeinen gleichgültigen Satz sagte, mein Herz schlägt so wie immer. Vielleicht sogar ruhiger. Wie in der Kirche. So als ginge ich zum Altar. Als spräche ich zum tausendsten Mal dasselbe Gebet, so sage ich denselben Satz immer, wenn ich einen neuen Menschen kennenlerne.
    Und jedes Mal geschieht das Wunder – in mir geschieht nichts.
    Viele Menschen vergessen meine Mitteilung, wenn sie zum nächsten Satz oder zu einem neuen Menschen übergehen. Obwohl ich ein Vierteljahrhundert gebraucht habe, um diesen Satz zu lernen.
    Ich aber werde immer strahlender, und das Licht um mich herum nimmt zu. Ich bin leicht,
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