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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe
Autoren: Sofi Oksanen
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allerbesten Pflege zuführen, also ihrer. Die vollen Tiefkühltruhen, Keller und Kühlschränke würden dort darauf warten, dass ich sie durchwühle. Mutter würde sich freuen, dass es ihrer Tochter schmeckt.
    Ich ringele mich in einer Ecke des Bettes um meinen Gipswurm zusammen und warte darauf, dass der Kleine Troll nach Hause kommt.
    Ja, Mutter, ich werfe all die Chancen weg, die du nicht gehabt hast. Ich lasse alles andere an mir vorbeirinnen und konzentriere mich auf das Wesentlichste: das Essen. Ich habe jede Chance erbrochen, mit der du mich gefüttert hast. Ich habe auch alles andere erbrochen, denn ich kann nichts annehmen, was in mich hineingeht, ich kann nur Dinge annehmen, die an der Oberfläche bleiben, wie Blicke. Die Blicke erzeugen auf der Oberfläche meines Körpers einenschimmernden Schild, von dem prallen sie auf die Körper anderer Frauen ab, auf hängende, birnenförmige Hinterteile und dicke Knöchel von dicken Frauen, und dringen in sie ein, sodass ihre Besitzer sich schämen und ich den allerhöchsten Genuss empfinde.
    Jetzt kann ich mich nicht erbrechen, ich kann mich nur in der Ecke des Bettes um meinen Gips herum zusammenrollen, auf die Heimkehr des Kleinen Trolls warten und alles andere an mir vorüber- über mich hinweg- unter mir hindurchgleiten lassen, alles hinwegspülen und meine Knochen zu noch empfindlicheren Spitzen abschleifen lassen, zu einem in den Händen zerfallenden Hemd, und die Brüste darunter brauchen keine Stütze mehr.

ICH
BIN
SO mutig geworden, dass ich dem Kleinen Troll alles über mich erzählt habe. Zum ersten Mal in meinem Leben lüge ich nicht und lasse nichts unerwähnt. Ich erzähle alles ganz und gar. Ich bin zur Hälfte Estin und habe fast mein ganzes Leben lang Essstörungen gehabt. Ich kann nicht essen.
    Der Kleine Troll findet das keineswegs erschütternd.
    Ich finde es erschütternd, dass er es nicht erschütternd findet.
    Ich frage den Kleinen Troll, ob er irgendwann nach Tallinn fahren würde, und er sagt Ja, aber ich erzähle ihm nicht von den Tulpen und auch nicht vom Auto, noch nicht, und ich bin selbst nicht sicher, ob ich überhaupt noch einmal dorthin fahren möchte.
    Ich frage den Kleinen Troll, ob er irgendwann mit mir essen gehen würde, und er sagt Ja.
    Der Kleine Toll sagt zu allem Ja und findet nichts erschütternd.
    Ich sage auch gleich, dass ich nicht weiß, was ich im Bett möchte.
    Der Kleine Troll sagt, alles klar.
    Und ist nicht erschüttert.
    Ich sage, dass ich Orgasmen vorgetäuscht habe.
    Der Kleine Troll wundert sich nicht, warum.
    Ich sage, dass ich sie oft vorgetäuscht habe.
    Auch darüber wundert der Kleine Troll sich nicht.
    Ich habe oft getäuscht und auf vielerlei Weise.
    Ich habe jemandem befohlen, mit anderen zu schlafen.

    Meiner Meinung nach ist das eine Sache, die einem nichts ausmachen sollte.
    Ich finde, die Einehe ist ein Witz, die Treue ebenso real wie der Weihnachtsmann und das Vertrauen eine Fantasie des Barons von Münchhausen.
    Mit denen, die ich liebe, kann ich nicht schlafen, und ich liebe nicht diejenigen, mit denen ich schlafe.
    Und ich habe meine Mutter geschlagen. Viele Male.
    Es fällt mir nichts mehr ein, worüber der Kleine Troll sich wundern könnte.
    Als Volljährige habe ich einen zehnjährigen Bengel im vollen Bus meine Brüste drücken und ihn seine Hand unter meinen Rock schieben lassen. Ich hoffte nur, niemand würde es bemerken. Das Entsetzen lähmte mich.
    Ich habe viel gestohlen und gelogen.
    Ich habe mein Studium abgebrochen.
    Ich habe es deshalb abgebrochen, weil –
    Ich erbreche meine Nahrung.
    – weil fünfzig Kilo für mich eine Vollzeitbeschäftigung sind.
    Ich werde auch das Essen erbrechen, das du kochst, und wenn du es noch so sehr mit dem Herzen für mich zubereitet hättest und auch wenn wir eine Woche lang nichts anderes zu essen hätten. Ich werde bestimmt auch deine Portion aufessen, wenn du in die andere Richtung schaust. Ich werde die Schokolade meiner Kinder aufessen und ihnen leere Pralinenschachteln zu Weihnachten schenken, weil sowieso niemand es wagen wird, darüber eine Bemerkung zu machen.
    Ich kann nicht essen, nicht Liebe machen und auch nicht mit Maßen oder auf menschliche Art trinken, nicht scheißen wegen meines langsamen Stoffwechsels, nicht schlafen außer den zwei Stunden der Anorektikerin oder den Tiefschlaf der Bulimikerin. Kapierst du das!
    Ich werde, wenn wir bei deiner Mutter zum Kaffee sind,Essbares unter dem Teppich verstecken und aus den
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