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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe
Autoren: Sofi Oksanen
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Kühlschränken deiner Bekannten Lebensmittel stehlen. Eine angebotene Praline in der Hand zu verstecken gelingt nicht, denn sie schmilzt, und sie zu essen bedeutet, dass der Kühlschrank deines Kollegen nach meinem Besuch nur noch halb voll ist. Wie wirst du das am Arbeitsplatz erklären? Das begreifen sie nicht. Sie halten entweder mich für verrückt oder dich für einen Peiniger, der seine Freundin hungern lässt. Ich kann alles Geld und das Einkaufen dir überlassen und dir verbieten, gefährliche Lebensmittel für mich zu kaufen, selbst in den Supermarkt gehen, vorgeblich nur, um mich umzuschauen, wobei es mir dann ein Leichtes ist, ein Produkt, nach dem ich giere, in die Tasche zu stecken. Stell dir nur mal vor. Du schiebst den Einkaufswagen, vielleicht ist noch jemand anderes dabei, Kinder oder Freunde, und dann kommt der Detektiv und durchsucht meine Taschen, in denen sich wie bei einem Penner ein Stück Leberwurst findet. Wie erklärst du das deiner fünfjährigen Patentochter: dass Tante Anna versucht hat, eine Leberwurst zu stehlen, während wir nur ein Eis für dich kaufen wollten. Zwar bin ich nicht so schlecht, dass ich mich erwischen ließe, aber es ist doch möglich. Früher oder später.
    Und wenn du nun Kinder haben wolltest? Und ich wäre schwanger? Glaubst du, dass mein Essen sich einfach so normalisieren würde, oder würde ich mit dem Erbrechen über den Kopf des kleinen Wurms hinweg weitermachen? Und das würde für das kleine Wurm ja erst recht gesund sein, oder? Begreifst du, wie leicht es wäre, das Erbrechen als Schwangerschaftsübelkeit zu verkaufen und die plötzlichen Fressanfälle und den Heißhunger als etwas, was zu »diesem« Zustand gehört? Du bildest dir doch wohl nicht wirklich ein, dass ich auch nur einen Tag lang ohne Pillen, Zigaretten, Alkohol und meine Bulimarexie sein könnte? Ich muss zumindest etwas davon behalten, und dem kleinen Wurm ist nichts davon zuträglich.

    Und was, wenn ich das Kleine verlieren würde? Was, wenn es tot geboren würde? Es würde auf jeden Fall eine Frühgeburt werden. Und wenn während der Schwangerschaft noch nichts schiefgehen sollte, so würde doch bei der Geburt zumindest ein Kaiserschnitt notwendig werden. Wenn das Kleine nun keine Beine hätte? Keine Ohren? Wenn Finger fehlten oder es zu viele wären? Wessen Schuld wäre das? Wer würde wen beschuldigen? Bist du bereit, mit so etwas zu leben? Bist du bereit dafür, dass mein zu früh Geborenes vielleicht gar nicht lebensfähig oder geistig zurückgeblieben wäre oder sich nur langsam entwickeln würde? Bist du bereit dafür, dass wegen meiner Krankheit dein Kind auf dem Hof in den Schnee gestoßen und mit Füßen getreten würde und dass dein Kind deshalb behindert wäre, weil seine Mutter nicht essen kann? Wenn dein Kind nicht lesen lernte? Würdest du dir das ansehen und glücklich und zufrieden sein? Und was, wenn dein Kind keine Kinder bekäme, weil die Mutter deines Kindes nicht essen konnte? Was glaubst du, wie viel Calcium nach dem Kind noch in meinen Knochen übrig wäre?
    Was, wenn man mich in Therapie steckt? Die Depression nach der Geburt steht mir mit Sicherheit bevor. Was, wenn meine Nahrungsaufnahme den Punkt erreicht, dass man mich ins Krankenhaus bringt? Wirst du mich dann besuchen, und was sagst du den anderen? Dass deine Frau in der Psychiatrie ist, ja? Was sagst du deiner Tochter? Deine Mutter ist in der Irrenanstalt, um essen zu lernen. Warum übergibt sich Mutter in der Toilette? Warum hat Mutter das Sparschwein geleert? Warum hat Mutter uns nichts übrig gelassen?
    Bist du darauf eingestellt, dass mein Herz das nicht aushält? Darauf, dass jeder beliebige Teil meines Körpers versagen kann? Darauf, dass ich eines schönen Tages vielleicht zu viele Diapam genommen habe, zu viele Schnäpse, zu viel was auch immer? Siehst du nicht, dass man mit mir nichtleben, nicht sein, nicht planen kann? Siehst du nicht, dass ich keine Zukunft und keinen Platz an dem Tisch habe, an dem du isst? Ich bin nicht in der Lage, dasselbe Leben in derselben Wohnung am selben Tisch mit dir zu leben. Mit einem Menschen, der Blut erbricht, kann man keine Zukunft aufbauen. Ich kann nicht arbeiten gehen und Kaffeepausen machen und an Betriebsweihnachtsfeiern teilnehmen. Dein Lohn geht für meine neuen Zähne drauf und für den Flaschenberg, der in der Küche wächst. Aus mir wird über kurz oder lang eine Alkoholikerin und Tablettenabhängige, ja, ich bin das schon. Für die Fressorgien gibt es
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