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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe
Autoren: Sofi Oksanen
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keine Alternative – ich kann lediglich einen Tag lang trinken, und dann ist es ein Tag, an dem ich mich nicht erbreche. Oder ein paar Diapam schlucken und dann einen Tag ohne Erbrechen sein. Aber wenn du dir einbildest, du könntest mir meinen Herrn ganz wegnehmen, dann irrst du. Und wenn du es allzu sehr versuchst, dann schlage ich dich, ich bring dich um, ich habe keine Alternative. Oder wenn du mir zu nahe kommst. Wenn du mich nach dem Essen nicht ins Badezimmer lässt, werde ich dich hassen. Verstehst du? Lass mich gehen. Lass mich los!
    Du bist nicht darauf eingestellt, dass ich meine Krankheit auf deine Kinder übertrage, dass ich sie nicht füttern kann und sie mäste, um zu beweisen, dass meine Kinder sehr wohl essen, oder ich lasse sie verkümmern, weil ich Angst habe, dass sie zu dick werden. Das kannst du nicht mit ansehen, das kann niemand!
    Feigling, sagt der Kleine Troll. Feigling, der nicht einmal wagt, es zu versuchen, der es nicht wagen will, weil er so sehr fürchtet, er könnte scheitern. Ein ehemaliges Wunderkind wie ich scheitert niemals.

DANN
ERZÄHLE
ICH Mutter, dass ich meinem neuen Schatz alles gesagt habe.
    Mutter sagt, so stark bist du nicht.
    Doch, das bin ich.
    Ich habe ihm alles erzählt und fürchte jeden Augenblick, dass er geht, wenn die Tür zuschlägt. Meine Angst lässt nur nach, wenn er da ist, wenn wir im Bett sind, wenn wir Haut an Haut schlafen. Aber sie verlässt mich nicht. Ich kann gegen meine Angst nichts anderes tun, als zu versuchen, sie durch Erbrechen aus mir herauszubekommen. Aber sie verschwindet nicht. Die Schande konnte ich aus mir herauskotzen, aber was passierte dann? An ihre Stelle trat etwas Neues, das ich auskotzen muss. Ich habe solche Angst, dass ich die ganze Zeit schlingen muss. Das ständige gierige Schlingen macht mich müde. Ich bin ständig müde. Alles Sprechen trocknet mir den Mund wirkungsvoller aus als die Bulimie.
    Ich kenne den Kleinen Troll überhaupt noch nicht.
    Wir sind seit drei Monaten zusammen, und ich habe mit niemand anders geschlafen.

DIE
BULIMIEVERLOSUNGEN
IN Lapinlahti sind gar nicht so stupide, wie ich gedacht habe, und ich bin nicht einmal die Älteste, obwohl ich mir dessen ganz sicher gewesen war. Die sind da ganz schlau und erzählen genau die Dinge, die meinesgleichen zu wahren Heldentaten anspornen, wie zu regelmäßigem Essen oder zur Normalisierung körperlicher Betätigung. Mir wird gesagt, dass die Wärmeproduktion nach einer Mahlzeit bis zu zehn Prozent des gesamten Energieverbrauchs in Anspruch nimmt. Das bringt mich dazu, zum ersten Mal ernsthaft darüber nachzudenken, ob ich nicht trotz allem häufiger als einmal pro Tag essen sollte. Wirklich schlau. Offenbar sind das da doch keine solchen Holzköpfe, wie ich geglaubt habe oder wie es die Mitarbeiter des Gesundheitswesens in Bezug auf Essstörungen generell sind. Vielleicht verstehen sie ja doch etwas.
    Zum ersten Mal im Leben kaufe ich nur eine einzige Tüte Eis, Tofu-Brombeere, und belasse es dabei. Eis hat niemals zu den Nahrungsmitteln gehört, von denen es sinnvoll gewesen wäre, eine so lächerlich kleine Menge zu kaufen. Ein-Liter- und Familienpackungen sind billiger, und auf das Billigere war meine ganze Kindheit orientiert. Meine Eistüte enthält nur fünfundsechzig Kalorien, und doch ist es Eis. Ich bin stolz.

ES
IST
SCHÖN, in Helsinki zu wohnen.
    Der Wind lässt die Vorhänge wehen.
    Ich lackiere mir die Zehennägel dunkelrot und trinke einige Tassen Sahnelikörkaffee. Sorgfältig putze ich die Toilette und versprühe Luftreiniger. Ich sammle die leeren Kekspackungen und Bonbonpapiere von gestern in eine Mülltüte und binde sie zu. Heute war ich so träge, dass ich nur ein Kilo Schaumzucker essen und erbrechen konnte, da dieses Erbrechen so mühelos und angenehm und schön ist. Durch das Erbrechen erleichtert und entspannt, rauche ich eine Zigarette und warte darauf, dass mein Liebling, der Kleine Troll, von der Arbeit nach Hause kommt.
    Ich laufe nicht mehr.
    Nicht weg, und auch sonst nicht.
    Ich springe nicht mehr.
    Nicht vor Freude, und auch sonst nicht.
    Ob Korsett oder Lotusfüße oder fünfzig Kilo. Ganz egal.
    Das ist der Preis, und ich bezahle ihn leicht.
    Meine Arbeit hat mich alt und müde gemacht. Aber das macht eine erfolgreiche Karriere ja immer. Die Füße des Kellners werden müde, die Kleider der Bäuerin werden schmutzig, die Prostituierte kann Syphilis und eine schöne Frau Osteoporose bekommen. Na und? Heute ist die Arbeit
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