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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist
Autoren: Martin Cruz Smith
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Zelte zu verlassen, und die Soldaten hatten zu viel Angst. Wenn sie eine Maus sahen, forderten sie Luftunterstützung an. Wenn sie überhaupt mal rausgingen, dann nur, um zu plündern.«
    »Was gibt es in Tschetschenien zu plündern?«
    »Nicht viel, aber wir haben eine Plünderermentalität. Darum wurde ich Kandidat. Ich will Russland wiederbeleben.«
    »Du hattest politische Pläne? », fragte Arkadi. »Über die Immunität hinaus, meine ich? Du bewunderst Lenin, Gandhi, Mussolini?«
    Eva ging über die Straße zum Schauspielhaus hinüber und sang einen alten Gassenhauer. »Stalin fliegt höher als jeder andere, er schlägt unsere Feinde in die Flucht und überstrahlt die Sonne.«
    Arkadi wusste nicht, über wen sie sich lustig machte. An den Schneeflocken auf ihrem Tuch sah er, dass es jetzt stärker schneite, und das war eine Rückkehr zur Normalität. Zum Teufel mit dem warmen Wetter.
    Eva kehrte an ihren Platz zwischen den beiden Männern zurück und hakte sich bei ihnen unter. Die drei bildeten eine Troika. »Zwei Männer, die bereit sind, für mich zu sterben. Wie viele Frauen können das von sich sagen? Will jeder von euch eine Hälfte, oder werdet ihr euch abwechseln?«
    »Der Gewinner bekommt alles, fürchte ich«, sagte Isakow.
    Er sah das Motorrad vor dem Theatereingang und legte die Hand auf den Motor. »Noch warm. Ich habe mich gefragt, wie du hier herumgefahren bist, ohne dich sehen zu lassen. Clever.«
    Sie waren nicht in einer Wohngegend. Zu dieser nächtlichen Stunde parkten nur wenige Autos in der Sowjetskaja-Straße, und niemand sonst war zu Fuß zwischen den dunklen Büros und Geschäften unterwegs. Ein erstklassiger Schießstand.
    Isakows Gedanken mussten in die gleiche Richtung gegangen sein, denn er schaute an Eva vorbei und fragte mit einem Unterton von müßiger Neugier: »Hast du eine Waffe?«
    »Nein.«
    Tatsächlich war eine Waffe in diesem Augenblick keine so schlechte Idee. Eine Tokarew würde genügen, aber die steckte zerlegt in Schenjas Rucksack.
    »Und selbst, wenn - keine Waffe könnte gegen deine antreten«, fügte Arkadi hinzu. »Wenn du darüber nachdenkst: Die Pistole deines Vaters hält vielleicht den Rekord als die Handfeuerwaffe, mit der die meisten Menschen erschossen wurden. Hundert? Zweihundert? Fünfhundert? Das ist doch zumindest ein Erbstück.«
    »Wirklich? »
    »Er tut mir leid. Stell dir vor - einen nach dem andern erschießen, Kopfschuss um Kopfschuss, Stunde um Stunde. Die Pistole wird glühend heiß und doppelt so schwer, und es müssen ja auch Opfer dabei gewesen sein, die unkooperativ waren. Da musste es Schweinerei geben, und er muss Arbeitskleidung getragen haben. Und der Lärm … »
    »Mein Vater hat Ohrstöpsel getragen und wurde trotzdem taub«, sagte Isakow. »Manchmal wollte er den Raum verlassen, und dann gossen sie ihm Wodka in die Kehle und schoben ihn wieder zurück. Er war immer gerade noch nüchtern genug, um abzudrücken und nachzuladen.«
    »Er hat seine Trommelfelle für die Sache gegeben. Hatte die Pistole jemals Ladehemmung?«
    »Nein.«
    »Lass mich raten. Eine Walther?«
    »Bravo.« Isakow zog eine langläufige Pistole aus einem Beutel. »Mein Vater hatte eine Vorliebe für deutsche Technik.« Selbst im Licht der Straßenlaternen ließ die Pistole ihre Schrammen erkennen. Außerdem sah sie hungrig aus.
    Ein blau-weißer Milizwagen kam die Sowjetskaja herauf und wurde neben ihnen langsamer. Arkadi rechnete zumindest mit einer Ausweiskontrolle. Isakow steckte die Walther in seinen Gürtel, ließ das OMON-Emblem auf seiner Jacke unter dem Mantel sehen und salutierte mit gekrümmtem Ellbogen wie ein Betrunkener. Die Scheinwerfer strahlten auf, und der Wagen rollte schnurrend weiter.
    »Er hat dich erkannt«, sagte Eva. »Sein Tag ist gerettet. Du bist ein Held in ihren Augen.«
    Und ein Mörder dazu, dachte Arkadi. Die Menschen waren kompliziert. Wer konnte zum Beispiel sagen, in welche Richtung Eva neigen würde? Es war, als spielte er Schach, ohne zu wissen, auf welcher Seite seine Dame stand.
    »Das Gefecht an der Sunscha-Brücke scheint ziemlich siegreich gewesen zu sein«, sagte er.
    »Vermutlich. Der Feind hat vierzehn Leichen zurückgelassen, und wir haben niemanden verloren. An diesem Tag hatte es vorher einen Überfall auf ein Feldlazarett gegeben. Gottlob bekamen wir die Nachricht rechtzeitig.«
    »Warst du an der Brücke, als der Angriff losging?«
    »Natürlich.«
    »Du bekamst die Meldung, dass in ein paar Minuten die Hälfte der
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