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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist
Autoren: Martin Cruz Smith
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und erschöpft zugleich, als hätten er und Eva ein Odland voller Verrat und Missverständnisse durchquert und überlebt. Später, das wusste er, würden sie darüber reden, und Worte würden dieses Erlebnis vermindern, aber im Augenblick fuhren sie in glücklicher Benommenheit mit dem Motorrad durch die Straßen.
    Nur einmal sprach sie über den Lärm des Motorrads hinweg. »Ich habe ein Geschenk für dich.« Sie zog eine Kassette aus der Innentasche ihres Mantels. »Das echte Band.«
    »Du bist eine wunderbare Frau.«
    »Nein, ich bin eine schreckliche Frau, aber die hast du jetzt am Hals.« Während sie darauf warteten, dass die Aufzugtür sich schloss, redeten sie über Belanglosigkeiten, um diesen Augenblick wie in einer Luftblase zu bewahren.
    »Bist du noch Ermittler?«
    »Das bezweifle ich.«
    »Gut. Wir können irgendwo hinfahren, wo es einen sonnigen Strand und Palmen gibt.«
    Als die Aufzugtür sich schließen wollte, kam eine Katze mit stachligem Fell herein, krümmte überrascht den Rücken und sauste wieder hinaus.
    »Und Schenja?«, fragte Arkadi.
    »Schenja sollten wir mitnehmen«, sagte Eva.
    Warum nicht?, dachte Arkadi. Goldener Sand, blaues Wasser und eine regelmäßige Abreibung auf dem Schachbrett wenn das kein Urlaub war, was war dann einer? Eva nahm das Tuch ab und schlug den Schnee aus, und sie stolperten in Arkadis Stockwerk aus dem Aufzug. Glücklichsein war wie Betrunkensein. Der übliche Ballast war nicht da.
    An der Wohnungstür fragte er: »Möchtest du einen Drachen sehen? »
    »Lass uns nur Schenja abholen und verschwinden«, flüsterte sie.
    Eva trat vor ihm ein. Als sie das Licht anknipste, kam Bora aus dem Badezimmer. Arkadi erkannte den Dolch, den er bei Tschistyje Prudi auf dem Eis gesucht und nicht gefunden hatte. Er war zweischneidig und rasiermesserscharf. Arkadi griff danach, und die Klinge schlitzte seine Handfläche auf. Bora drehte sich um, stieß Eva das Messer in die Seite und schleifte sie rückwärts über Sofia Andrejewnas Leiche hinweg. Sofia Andrejewas Kehle war durchgeschnitten, und ihr Gesicht war weiß unter der grellen Schminke aus Wimpertusche und Rouge. Wände und Plakate waren bespritzt von den Spuren eines Kampfes. Schenja hatte sich hinter einem Couchtisch in einer Ecke des Zimmers verbarrikadiert und hielt ein langes Messer in einer Hand. Auf dem Tisch lag die halb zusammengesetzte Tokarew; sie wartete noch auf Verschlussfeder und Muffe.
    Bora trug Gummihandschuhe und einen leicht waschbaren Trainingsanzug. »Lachst du jetzt auch noch?«, fragte er Arkadi.
    Als er das Messer aus ihrer Seite zog, sank Eva zu Boden und rang nach Luft.
    In der Ecke fummelte Schenja mit der Feder herum, und sie rollte ihm vom Tisch. Das war unfair, dachte Arkadi. Sie waren so clever gewesen - Eva vor allem.
    Bora hatte die zuversichtliche Arbeitsweise eines Metzgers:
    Er würde den Bauch aufschlitzen, aber er war bereit, mit einem Arm oder einem Bein anzufangen. In Filmen wickelte sich der Held an dieser Stelle einen Mantel um den Unterarm, um sich zu schützen, dachte Arkadi. Aber hier schien kein Mantel zur Verfügung zu stehen. Stattdessen stolperte er über den Teppich und stürzte. Sofort war Bora über ihm und drückte die zerschundene Seite von Arkadis Kopf auf den Boden.
    Boras Atem war heiß und feucht. »Da gibt’s ein Fitnessstudio in deinem Hof. Ich komme da raus, und wen sehe ich, wie er gerade einen Motorradhelm abnimmt? Den Mann von Tschistyje Prudi. Weißt du noch, wie viel Spaß du auf dem Eis hattest? Du hast den Falschen ausgelacht.«
    Bora bestand nur aus Muskeln, während Arkadi schon beim Treppensteigen außer Atem geriet. Außerdem konnte er sich nur mit einer Hand gegen Bora wehren. Alles war falsch. Der rote Ring um Sofia Andrejewnas Hals. Schenjas Verzweiflung, als die Verschlussfeder wieder wegsprang und außer Reichweite rollte. Evas raues Keuchen.
    Bora legte noch mehr Gewicht auf sein Messer.
    »Lachst du?« Bora schob das Messer in Arkadis Ohr. Die Spitze kitzelte die feinen Härchen im Gehörgang.
    Langsam und widerstrebend gab Arkadis Arm nach. Er erinnerte sich an einen Traum, in dem er alle im Stich gelassen hatte. Er erinnerte sich nicht an die Einzelheiten, aber das Gefühl war das gleiche.
    Ein Schachbrett prallte von Boras Schädel ab. Er hob den Kopf, und Schenja schoss.
    Einen zweiten Schuss würde es nicht geben, denn der Junge hatte abgedrückt, ohne die Feder einzusetzen.
    Ein zweiter Schuss war auch nicht mehr nötig. Bora lag
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