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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Autoren: Christoph Fromm
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Stirb!«
    Seine Gedanken irrten durch eine Höhle, in deren Tropfsteine die zerstückelten, zerfetzten Gesichter der Toten gemeißelt waren, die er begraben hatte, ein halbes Jahr lang, sechzehn Stunden am Tag, und im Takt zu seinen immer schneller jagenden Schritten schlugen die Trommeln, gemacht aus ihrer Haut und ihren Gebeinen. Er musste lachen, weil er sich vor ihrem Klang fürchtete.
    Nur allmählich wurde ihm klar, dass es sich bei den schweren dumpfen Schlägen um das wiedereinsetzende Geschützfeuer handelte.
    Er nahm das Holz vom Gesicht des Hauptmanns und sah, dass er einen Bewusstlosen unter sich liegen hatte. Er legte Musks Kopf auf die Steinplatten, ging in eine Ecke des Gewölbes, setzte sich auf den Boden und fühlte das Metall seiner Pistole in der Hand. Dann spürte er noch eine Hand. Es war die von Hans.
    »Keine Angst«, sagte Gross. »Ich töte niemanden, am wenigsten mich selbst. Ich werde überleben, wie auf meinem Bild.« Verwundert lauschte er seinen Worten nach. Plötzlich schüttelte er sich heftig. »Beschämend, was die Todesfurcht mit einem treibt. Wir müssen wieder in die Kälte. Wer weiß, was sonst hier unten noch alles an Erbärmlichkeiten auftaut.«
    Er holte aus und warf sein Schnit zwerk ins Feuer. In der aufstiebenden Glut sahen sie Rollo am Fuß der Treppe stehen. Er hatte sich den Hauptmann über die Schultern gelegt. »Ich geh mit ihm«, sagte er. »Er hat recht. Ist besser so.«
    »Du spinnst doch!« Fritz stolperte auf die Füße und wollte ihn halten. »Bleib hier!«
    »Lass nur.« Rollo löste seinen Ellenbogen aus Fritz’ Griff. »Ich wünsch dir, dass du durchkommst, Dicker.«
    Fritz wollte noch einmal nach ihm greifen, ließ die Hand dann aber sinken. Er hatte kein Recht, ih n aufzuhalten. »Bloß keine Übertreibungen«, flüsterte er.
    Der Körper des Hauptmanns begann von Rollos R ücken zu rutschen. Er rückte ihn wieder zurecht, drehte sich um, ging zur Treppe, blieb noch einmal stehen. »Herr Leutnant, war ziemlich bescheuert, unsere Wette, was?«
    »Das war sie«, murmelte Hans.
    Langsam stieg Rollo mit dem Hauptmann die Kellertreppe hoch. Sie hörten seinen schweren Atem. Oben blieb er stehen, und Fritz hoffte für einen Moment, er würde zurückkommen.
    Aber er hustete nur und spuckt e aus. Dann räumte er die Barrikaden beiseite. Zwei Metallrohre schepperten die Stufen hinab. Danach war es wieder still.
    Hans ging zu Fritz, nahm ihn in den Arm. Erst da begriff Fritz endgültig, dass Rollo weg war. Dass er ihn nie wiedersehen würde.
    Er presste sein Gesicht an Hans’ Brust. Sein breiter Rücken zuckte. »Merito«, flüsterte er erstickt. »Das dumme Arschloch …«

 
     
     
     
     
     
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    R ollo schleppte sich durch die Straßen von Stalingrad. Mit Schritten, die kaum ein Fußbreit auseinander lagen, ging er seinem kleinen persönlichen Ende entgegen. Der kurze Augenblick der Klarheit, den die Kälte gebracht hatte, war längst wieder verflogen und dumpfer Erschöpfung gewichen. Sein Entschluss drohte ins Wanken zu geraten. Ich sterbe als Soldat, dachte er, nicht als Deserteur, als Soldat. Er durfte diesen Gedanken nicht wieder verlieren. Der Hauptmann lag quer über seinen Schultern.
    »Herr Hauptmann«, keuchte er unter seiner schweren Last, »ich … ich kann die HKL nicht finden. Ich weiß, Sie wollen weiter … also gehen wir weiter.« Er taumelte. »Die HKL ist überall …«
    Er bekam keine Antwort. Da s Gesicht auf seinem Rücken vereiste bereits. Schneeflocken füllten den geöffneten Mund, blieben auf den weit und starr geöffneten Augen liegen.
    Rollo bemerkte es nicht. Ruinen, Schuttberge, Leichen wankten durch sein Blickfeld. Plötzlich s tand er einem Haufen unbewaffneter deutscher Soldaten gegenüber. Ihre Lumpen wurden hauptsächlich durch Schnee und Eis zusammengehalten.
    »He … « Sein Krächzen war kaum zu verstehen. »Wo ist die HKL?«
    Einer der Landser wies auf Musk. »Willste den dort als Vogelscheuche aufstellen?«
    Rollo ließ den Hauptmann von seinen Schultern gleiten und wischte ihm den Schnee aus dem Gesicht. Der Hauptmann war nicht tot. Er konnte ganz deutlic h seinen Atem spüren. Diese verdammten Deserteure hatten nur Schiss. Alle hatten sie Schiss.
    Er lud sei ne MPi durch. »Wo ist die HKL?«
    Seine Stimme klang gefährlich leise.
    Der Mann vor ihm zuckte mit den Schultern. Er hatte seit fünf Tagen nichts gegessen, und die erfrorenen Füße vergifteten sein Blut. »Leck mich am Arsch!« Er schob Rollos Waffe
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