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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Autoren: Christoph Fromm
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wieder stolz und unnahbar. Rollo wollte weg von diesen Augen, zurück in den Kreis der anderen, wo er sich einigermaßen sicher fühlte.
    »Bleib hier«, sagte Musk. Seine Stimme klang freundlich. »Du wirst doch deinem Hauptmann nichts antun?«
    »Nein, Herr Hauptmann«, stammelte Rollo. »Es ist nur alles so durcheinander hier …«
    »Ich will niemanden zur Rechenschaft ziehen«, sagte Musk. Hans schwor sich, diesmal lieber das elendeste Sterben in Kauf zu nehmen, als noch einmal auf seine Worte hereinzufallen. Der Hauptmann sprach weiter: »Jeder von euch war mal ein guter Soldat, bis ihr versucht habt, um jeden Preis zu überleben. Vielleicht war es wichtig für euch …«
    Ein Schwächeanfall überkam ihn, doch er riss sich zusammen, wartete, bis ihm das Morphium wieder genug Kraft zum Sprechen gab, und richtete sich auf seinen Decken auf. Ein Seelenkrüppel, dachte Gross bitter, der sich nicht z u schade ist, auch noch die verkohlten Gemäuer und verbrannten Gemüter zu beherrschen. Und er saß immer noch zu seinen Füßen, war ihm gefolgt über das Knochenmeer, hatte ihn hochgehoben und weitergeschleppt, als er niedergesunken war – aus Rache –, hatte ihm den schnellen, schmerzlosen Tod nicht gegönnt – zurecht –, hatte nie aufhören können, ihn zu lieben, nicht einmal im schlimmsten Hass, nicht einmal in der größten Verachtung. Und so hatten sie sich bis hierher geschleppt in dieses graue, tropfende Gemäuer, und hier verendeten sie nun, bedeutungslose Würmer, die an ihren eigenen Körpern nagten. Doch Musk, halbiert an Leib und Seele, konnte sich immer noch nicht mit ihrer Jämmerlichkeit abfinden, musste Tragödie spielen bis zuletzt. Es war lächerlich, rührend, abstoßend.
    »Vielleicht war es wichtig f ür euch«, wiederholte der Hauptmann, »diesen Weg zu beschreiten, um selber zu sehen, wohin er euch bringt. Glaubt ihr denn wirklich, dass ihr als Deserteure mit gutem Gewissen weiterleben könnt?«
    »Besser, als wir’s als Soldaten könnten«, entgegnete Fritz barsch. »Und jetzt halt’s Maul!«
    Gross betrachtete die Totenmaske, die er für seinen ehemaligen Freund angefertigt hatte, und versank hinter ihren leeren Augen, bis sie ihm komisch schienen und er in leises Gelächter ausbrach. Musk schwieg. Ihre Blicke kreuzten sich in der Dunkelheit, und Gross bemerkte bitter, dass sein Mitleid Musk galt und nicht den Männern, die dieser in den Tod zu schicken gedachte.
    »Wir alle bewundern deine Überzeugungskraft, Hermann«, sagte er. »Aber diesmal gehen wir nicht mit dir. Du musst allein sterben.«
    »Mach dir doch nichts vor, du …«, schrie Musk, doch seine Lungen verwandelten sich in glühende Bälle, sodass er abbrach und röchelnd um Luft rang. Dann fuhr er leiser fort: »Gerade du solltest am besten wissen … Ihr seid Soldaten … Ihr werdet immer Soldaten bleiben … Eure Heimat ist der Krieg! Zu Hause seid ihr für immer Fremde.«
    Er richtete sich stöhnend auf, s eine Gesichtshaut schien vor Anstrengung zu reißen, und die anderen sahen wieder zu Boden, doch nicht mehr, weil sie sich schämten oder schuldig fühlten, sondern weil sie das jämmerliche Zerrbild, das der Tod aus dem Hauptmann machte, nicht länger ertragen konnten.
    »Es stimmt«, flüsterte Musk und suchte hinter den Schatten vor seinen Augen nach zusammenhängenden Worten, »die Situation ist ausweglos … Hier kommt keiner lebend raus. Diese Schlacht ist verloren. Aber jeder Gegner … den wir jetzt noch töten … jeder vernichtete Panzer … ein Beitrag zum Sieg unserer … gehen wir … schneller Tod … besser … «
    »Heil Hitler«, beendete Gross die Ansprache. Und er lachte über die Worte seines ehemaligen Hauptmanns, während ihm der Anblick seines ehemaligen Freundes in den Augen brannte. Er hörte, wie Hans und Fritz in sein Gelächter einfielen. Ihr Lachen war ein verzweifelter Schutz gegen die teuflische Logik, die immer noch in den Worten des sterbenden Hauptmanns lag, eine Logik, der sie sich zwar entzogen hatten, die aber noch immer in ihnen wucherte wie ein Geschwür.
    Der Hauptmann hörte ihr Lachen und hob langsam den Kopf. Mit letzter Kraft versuchte er ihr morsches Gelächter zu zerreißen, das längst nur noch ein Gemisch aus Husten und Weinen war, er versuchte zu sprechen, aber die Stimme versagte ihm, das Blut pochte in seinen Ohren, und ein schwerer süßlicher Geschmack füllte seinen Mund. Er würde nicht sterben. Nicht hier, nicht so.
    Er richtete die Waffe auf Gross: »Hör auf
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