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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Autoren: Christoph Fromm
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brachte. »Ich mag das Mädchen, Herr Leutnant«, lallte er, runzelte die Stirn und schrie: »Sie ist die Einzige, die mich versteht!« Verlegen starrte er ins Feuer. »Mein Alter war nämlich Kommunist«, murmelte er. »Da staunt ihr, was?« Übergangslos begann er zu weinen. »Haben ihn auf’m Fluchtversuch im KZ erschossen.« Wie ein kleiner Junge, der sich daran erinnert, dass er tapfer sein muss, wischte er sich die Tränen ab. Dann schrie er: »Was musste er auch flüchten, die dumme Sau!« Er schüttelte den Kopf. »Hätt nur noch drei Wochen zu sitzen gehabt. Hat den Sozialismus des Führers nie verstanden.«
    »Hoffentlich verstehst du ihn jetzt«, murmelte Fritz.
    Rollo kroch wieder zu der Russin, von der er am meisten Verständnis erwartete. Seine Ausführungen waren ebenso hilflos wie komisch, so dass die anderen – erleichtert, vorübergehend ihrer stummen Verzweiflung zu entkommen – unwillkürlich die Zähne bleckten. Dadurch wirkten ihre Gesichter wie grinsende Totenschädel, die im Gegensatz zu ihrem restlichen Körper das Sterben bereits hinter sich gebracht hatten, und es war eine weitere Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Rollo ihnen das in diesen Tagen seltene Privileg verschaffte, dem Tod mit einem letzten Lachen zu begegnen.
    Unbeholfen begann er vor den Männern herumzutanzen. Ihre gespenstische Heiterkeit schien ihn zu beflügeln. Selbst der Arzt kroch von seinen Decken und klat schte mit zitternden Händen Beifall, und während Rollo ihn an sich zog und versuchte, sich gemeinsam mit ihm an die Grundschritte des Tangos zu erinnern, glitt die Hand des Arztes in seine Tasche und schloss sich um die letzte Ampulle und die Spritze.
    Niemand achtete darauf, und so gelang es ihm, sich unter dem Vorwand, seine Notdurft verrichten zu müssen, in den hinteren Teil des Raums zurückzuziehen. Mit fliegenden Händen zog er die Spritze auf und schob den Ärmel hoch.
    Plötzlich spürte er zwei Augen in seinem Rücken. Ihr Blick durchbohrte ihn wie Kanülen, aus denen eisige Angst in ihn floss. Er wollte sich umdrehen, aber er war wie gelähmt, und selbst der Gedanke, sich endlich die Nadel in die Ader zu stechen, saß unbeweglich in seinem Hirn, ohne dass er ausgeführt werden konnte.
    Als der Schuss fiel und sich die Kugel dumpf in seinen Körper bohrte und sein Herz zerriss, war es keine Überraschung, sondern wie das logische Ende eines freien Falls.
     
    Die Blicke der anderen folgten seinem Körper, der zu Boden fiel, folgten der Spritze, die wie ein gez ücktes Messer aus seiner geballten Faust ragte, und glitten dann zu der Pistole in der Hand des Hauptmanns. Mühsam richtete er den Oberkörper auf, befahl ihnen, die Hände zu heben.
    Rollo lachte ungläubig. Er glaubte an ein Trugbild des Alkohols, bis er feststellte, dass es seine Waffe war, die der Hauptmann in der Faust hielt. Erschrocken verstummte er.
    Ein neuer Schmerzanfall ging durch Musks ausgemergelten, fieberglühenden Körper, der Lauf seiner Waffe zitterte. Es sah aus, als müsste sie ihm jeden Moment aus der Hand fallen.
    Fritz machte einen Schritt auf ihn zu, um sie ihm wegzunehmen, bevor der Hauptmann noch einmal auf jemanden feuern konnte. Musk schoss, die Kugel schlug knapp vor Fritz in den Boden. Dann befahl ihnen Musk aufzustehen. Alle, auch die Russin, folgten.
    Nur Gross blieb sitzen. Als ginge ihn das alles nichts an, schnitzte er weiter an seinem Stück Holz, das sich langsam zu einem kahlen Gesicht mit durchlöcherten Augen formte. Jetzt haben wir wirklich nicht mehr viel Zeit, dachte er, und auf einmal wusste er, was er da schnitzte. Warte noch ein wenig, dachte er, deine Totenmaske ist bald fertig.
    »Rohleder«, keuchte der Haup tmann. »Bring mir die Spritze!«
    »Mach das nicht«, krächzte Fritz.
    »Wenn er es nicht macht«, sagte Musk ruhig, »wirst du erschossen.«
    Rollo wand dem Arzt die Spr itze aus der Hand. Für einen Moment stand er unschlüssig im Qualm, als habe er vergessen, was er eigentlich hier wollte. Die Stimme des Hauptmanns brachte ihn an dessen Lager.
    »Stech sie mir in Arm!«
    Rollo sah in sein fieberverzehrtes Gesicht. Zum ersten Mal verspürte er Angst vor der Gewalt, den der Blick aus diesen Augen über ihn besaß.
    »Ich weiß nic ht, wie das geht«, murmelte er.
    »Einfach in die Ader stechen. Findest du schon.«
    Ohne die anderen aus den Augen zu lassen oder die Waffe zu senken, ließ sich Musk von Rollo die Spritze setzen.
    Seine Miene entspannte sich, der Blick seiner Augen wurde
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