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Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben

Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben

Titel: Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
Autoren: Katja Barbara und Trippel Schaefer
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Jobs, Zukunftsängste, komplizierte Liebesbeziehungen. Sie können sich aber nicht davon ablenken, kaum auf andere Gedanken kommen. Bereits anno 1866 klagten die französischen Schriftstellerbrüder Edmond und Jules de Goncourt: »In der Provinz ist schon Regen eine Zerstreuung.« In der Stadt hingegen warten Chancen und Möglichkeiten statt Schnittlauch und Blütenpotpourri, warten Arbeit und Abenteuer, Menschen und Begegnungen.
    Natürlich poppt manchmal so eine Sehnsucht auf nach Landschaft, Weite. Aber die ist so alt wie die Großstadt. Schon Kurt Tucholsky wusste davon: »Ja, das möchste: Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, / vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; / mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, / vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn – / aber abends zum Kino hast dus nicht weit. / Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit.« So beschrieb der Berliner Autor 1927 in seinem Gedicht »Das Ideal« die Wohnungssuche und schwärmt weiter von einer »Bibliothek und drumherum Einsamkeit und Hummelgesumm«. Weil aber alles zusammen nun mal nicht geht, muss sich der Mensch entscheiden. Und immer mehr Menschen entscheiden sich für die Großstadt.
    Ein Drittel der Einwohner Deutschlands lebt in Städten mit mehr als hunderttausend Einwohnern. Die große Stadt und ihre kleinen Viertel, ihre Kieze, Veddel, Grätzel, sie geben uns alles, was wir brauchen. Die Großstadt ist die All-in-one-Lösung, Dorf und große Welt zugleich.
    Klar sind die hohen Miet- oder Immobilienkosten in den Innenstadtlagen beklagenswert; zumal die Kommunalpolitik Möglichkeiten hätte, Mietsteigerungen und Verdrängungsprozesse zu begrenzen. Doch wer glaubt, das Leben auf dem Land sei insgesamt preiswerter, sitzt einer Milchmädchenrechnung auf: Jeden Euro, den das vermeintlich günstige Heim im Grünen spart, schluckt dafür die Tankstelle, dazu kommen die Kosten für den Zweit- oder Drittwagen. Viele Familien, die rausziehen, sind sich weder der Mobilitätskosten noch der Zeit, die das Pendeln frisst, bewusst und tappen in eine »raumstrukturelle Falle« – das hat eine Studie im Auftrag des Umweltbundesamts und des bayerischen Innenministeriums ermittelt. Das Problem hoher Mieten wird ersetzt durch eine lebenslange Abhängigkeit von der Benzinpreisentwicklung.
    Schon ein paar Tage in Datschendorf reichen, um Landlust in Landfrust zu verwandeln: Der Bäcker hat schon lange zugemacht, Netto bietet Aufbackbrötchen, Dosenfood und unreifes Gemüse. Es gibt keinen Metzger, um Grillwürste einzukaufen, keine Apotheke für das Antizeckenkit, keine Kneipe, die anderes auftischt als Hausmannskost. Dafür Autowaschanlagen, Nagelstudios. Wir haben uns vor dem Rausfahren mit Baguette, Oliven und Wein eingedeckt. Wer im Dorf Rohmilchkäse oder Biofleisch essen möchte, muss es von der Stadt aufs Land exportieren.
    Wir nähern uns dem Ortsschild: Berlin. Selbst nach fünfzehn Jahren hüpft uns das Herz, wenn es auftaucht. Zwei Ampeln später hat die Stadt uns geschluckt: rechts Häuser, links Häuser. Busse, Supermärkte, Werkstätten. Krankenhäuser, Dönerläden, Biergärten, Theater und Kinos. Parks und U-Bahn-Eingänge. Menschen, Gewusel, Graffiti.
    »Die Stadt ist Multiperspektivität wie sonst nur noch das Gebirge, wo einen hinter jeder Wegbiegung ein anderer Blick, eine andere Landschaft erwartet«, sagt der Geisteswissenschaftler Wilhelm Schmid, der in Berlin und Riga lebt und lehrt. Wir lieben dieses urbane Gebirge! Die Berge und die Wegbiegungen. Vor allem aber lieben wir das Gewusel. In der Stadt leben die unterschiedlichsten Lebensentwürfe Seite an Seite. Man kann nicht alle, nicht einmal die meisten davon teilen oder gutheißen. Ätzende Assis und protzende Promis, grüne Spießer und geistig tiefergelegte junge Männer, Kopftuch-Frauen und Hipster-Jungs, Sarrazins und Nazis, Normalos und Nutten, alle sind sie da. Das muss man schon aushalten. Die gute Nachricht: In der Masse der Stadt neutralisieren sie sich. Wir halten sie aus. Und sie uns.
    Gibt es in Datschendorf Gewusel? Oder gar Graffiti an den Wänden? Natürlich nicht. Unsere Nachbarn halten ihre Häuser tadellos in Schuss. Rollos am Küchenfenster, Terrasse mit pseudotoskanischen Säulen, ein Lattenzaun um die gemähten Latifundien. Dahinter Kaninchen für die Kleinen, Autos für die Großen. Ansonsten: nix Schräges, nix, was einen zum Staunen bringt, nix, was ein bisschen raussticht aus dem Baumarktschick.
    Nur wir haben wieder die halbe Nachbarschaft
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