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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
Autoren: Armistead Maupin
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das mulmige Warten auf die Neuigkeiten, mit denen sie einem den Urlaub nicht hatten verderben wollen. Sein erster Gedanke war: Wer ist denn noch gestorben?
    »Was ist?« fragte er.
    »Nichts. Ich will bloß nicht … mit der Tür ins Haus fallen. Setz dich doch.«
    Er gehorchte.
    Sie setze sich auf einen Hocker. »Erinnerst du dich noch an meine alte Freundin Connie Bradshaw?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nee, tut mir leid.«
    »Du weißt doch … bei der ich gewohnt hab. Als ich von Cleveland hierhergezogen bin.«
    »Ach ja. Die mit den Gemälden auf Samt.«
    Sie nickte.
    »Die Trampel.«
    Sie verzog das Gesicht. »Sie war gar kein Trampel, Mouse.«
    »Aber du hast immer gesagt …«
    »Laß mal. Sie war sehr gut zu mir. Ich hätte das nicht sagen sollen.«
    »Na schön.«
    »Sie ist gestorben, Mouse.«
    »Oh.« Er war trotz allem erleichtert. Gott sei Dank niemand von den engeren Freunden.. »Sie ist bei der Entbindung gestorben. Na ja, nicht gleich. Einen Tag danach oder so. Es war was, was sich Eklampsie nennt. Ihr Blut ist nicht mehr geronnen. Sie hatte einen Schlaganfall.«
    Er furchte die Stirn. »Das tut mir leid. Ist ja schrecklich.«
    Sie nickte. Dann sah sie ihn mit einem seligen Blick an. »Sie hat mir ein Baby vermacht, Mouse.«
    »Wie?«
    »Sie war nicht verheiratet, und ihre Eltern leben nicht mehr, und ihr Bruder ist Junggeselle und studiert Medizin, und … sie hat mir vor ihrem Tod einen Brief geschrieben und mich gebeten … es großzuziehen.« Mit einem verlegenen kleinen Schulterzucken wartete sie auf seine Reaktion.
    »Du meinst … es ist …?«
    Sie nickte. »Im Schlafzimmer. Bei Brian.«
    »Mein Gott … dann wird es also …«
    »Sie«, unterbrach sie ihn. »Sie wird unsere kleine Tochter sein.«
    Er war fassungslos. »Das ist unglaublich, Mary Ann.«
    »Ich weiß.«
    »Na, und … äh … wie fühlst du dich dabei?«
    Sie zögerte. »Ziemlich gut, würd ich sagen.«
    »Du weißt es nicht genau?«
    »Na ja … ich muß mich erst noch dran gewöhnen.«
    »Und Brian?«
    Sie sah ihn lächelnd an. »Sieh selbst.«
    Sie stand auf, nahm ihn am Arm und zog ihn ins Schlafzimmer. Brian saß im Sessel neben dem Bett und hatte das Baby im Arm. Eine Lampe auf der Kommode beleuchtete seinen Kopf von hinten mit einer Art Heiligenschein. Michael fragte sich unwillkürlich, ob es eine männliche Entsprechung zur Madonna gab.
    Brian strahlte ihn an. »Willkommen daheim.«
    Michael schüttelte ungläubig den Kopf. »Was sagt man zu diesem Burschen.«
    »Nein, was sagt man zu diesem Gesicht.« Er meinte das Baby.
    Michael stellte sich neben ihn und sah hinunter auf das rosige Gesichtchen. Brian gab dem Baby einen kleinen aufmunternden Stups. »Sag deinem Onkel Michael guten Tag, Shawna.«
    »Shawna, hm?«
    »Den Namen hat ihr Connie gegeben«, sagte Mary Ann.
    »Shawna Hawkins.« Michael lauschte dem Klang nach. »Macht sich gut.« Er sah sich im Zimmer um. »Eine Wiege, Spielzeug, alles da. Ihr habt euch aber rangehalten.«
    »Nein«, sagte Mary Ann. »Connie hatte schon alles.«
    »Oh.« Er konnte ihre Verwirrung gut verstehen. »Das kam alles sehr plötzlich, was?«
    Sie nickte. »Sehr.«
    »Ein Instant-Baby«, sagte Brian.
    Mary Ann zog eine Schublade auf und nahm einen Briefbogen in Pink und Grün heraus. »Hier, das hat sie mir geschrieben.« Sie gab ihm das Blatt. Es roch nach Parfüm. Mary Ann, las er, bitte kümmere dich um mein kostbares Engelchen. Herzlich, Connie. Neben ihren Namen hatte sie einen Smiley gemalt.
    »Typisch Connie«, sagte Mary Ann.
    Michael nickte. »Das arme Ding«, fügte sie hinzu.
    »Na«, meinte er, »wenigstens hatte sie den Trost, daß sie wußte, wer die neue Mutter sein würde.«
    »Mich hat sie auch gekannt«, sagte Brian. »Ich bin mal mit ihr ausgegangen.«
    »Ein- oder zweimal«, sagte Mary Ann.
    Brian schaute wieder auf Shawna herunter und hielt ihr seinen Zeigefinger hin. Fünf winzige Finger schlossen sich darum. »Wir haben uns im Come Clean Center kennengelernt«, sagte er.
    »Wie?« Michael wußte nicht, was gemeint war.
    »Der Waschsalon in der Marina.«
    »Oh.«
    Mary Ann funkelte die beiden an. »Ich finde, das müßt ihr der kleinen Shawna nicht unbedingt ins Poesiealbum schreiben.«
    »Wer ist der Vater?« fragte Michael.
    Mary Ann nahm den Briefbogen wieder an sich und legte ihn in die Schublade zurück. »Anscheinend ein Typ, mit dem sie mal beim Us Festival gewesen ist. Sie war nicht ganz sicher. Sie wollte einfach ein Baby haben.«
    Michael tat es leid,
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