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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
Autoren: Armistead Maupin
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daß du’s mir erzählt hast.«
    »Er hat sich so sehr ein Kind gewünscht.«
    »Ich weiß. Er hat’s mir gesagt.«
    »Tatsächlich? Wann denn?«
    »Oh, neulich … als du hinter der Queen her warst.«
    »Was hat er gesagt?«
    »Ach … nur, daß er gern eins hätte … und daß du dich mit dem Gedanken nicht so recht anfreunden kannst.«
    »Ihm zuliebe würd ich eins haben wollen«, sagte sie.
    »Das hast du ja bewiesen«, meinte die Vermieterin.
    »Ich hab bloß solche Angst, daß es jetzt zu spät ist. Es paßt nicht zu ihm, daß er so lange wegbleibt.«
    »Laß es ihn ruhig ein bißchen spannend machen«, sagte Mrs. Madrigal mit einem Anflug von Lächeln. »Es ist vielleicht das einzige, was er aufbieten kann.«
    »Gegen was?«
    »Gegen die vielen Rätsel, die du ihm aufgibst.«
    »Moment mal«, sagte Mary Ann, »so schwer bin ich nicht anzurechnen.«
    Die Vermieterin tätschelte ihr Knie. »Wir beide wissen das, Kind … aber er nicht.«
    »Dann …«
    »Frag ihn nicht, wo er war, Liebes. Laß ihm das kleine Geheimnis.« Mrs. Madrigal stand abrupt auf. »Tja … ich muß noch den Keller aufräumen.«
    Mary Ann verstand nicht, weshalb sie so plötzlich ging – bis sie zum Gartentor schaute und ihren Ehemann kommen sah. Sein Gang war schleppend, und sein Gesicht schien zu keiner Gefühlsregung fähig zu sein, als er auf sie zuging.
    »Hallo«, sagte er.
    »Hallo«, antwortete sie.
    Er setzte sich auf die Bank, hielt aber einigen Abstand zu ihr. »Mußt du heute nicht arbeiten?«
    »Ich hab mich krank gemeldet.«
    Er nickte. Seine Arme hingen schlaff zwischen seinen Schenkeln herab. »Ist Simon noch …?«
    »Er ist wieder in England. Er ist gestern abgeflogen.«
    Lange saß er schweigend da. Schließlich sagte er, ohne hochzuschauen: »Ich hab dir nicht angst machen wollen. Ich hab bloß Zeit gebraucht zum Nachdenken.«
    »Ich weiß.«
    »Hier ging das nicht. Es gab zuviel …«
    »Versteh ich vollkommen.«
    »Laß das doch!« sagte er gereizt.
    »Was?«
    »Laß mich einfach reden. Ich erwarte keine Erklärungen. Ich hab mir alles überlegt.«
    Sie nickte. »Gut.«
    »Ich finde, ich sollte gehn«, sagte er.
    »Gehn?«
    »Eine Zeitlang woanders leben. Mir vielleicht einen anderen Job suchen. Hier bin ich überflüssig.«
    »Brian, bitte sei nicht …«
    »Hör mir zu, Mary Ann! Ich bin fast vierzig und hab noch nichts zustande gebracht. Nicht mal meiner Frau kann ich alles geben, was sie sich wünscht. Nicht mal das kann ich.«
    »Aber das tust du doch!«
    »Nein, tu ich nicht. Was sollte denn sonst diese kleine Einlage, hm?«
    »Da ging’s doch nicht darum, Brian. Das war …«
    »Spielt doch keine Rolle. Ich weiß, wie mir zumute ist. Wenn ich hierbleibe, wird’s bloß noch schlimmer.«
    »Weißt du, wie mir zumute ist? Was soll mit mir werden, wenn du mich verläßt?«
    »Du kommst schon klar«, sagte er und lächelte matt. »Das gehört zu den Dingen, die ich an dir mag … du bist stark.«
    »Ich bin nicht stark«
    »Du bist stärker als ich. Ich bin ein Softie.«
    »Ein was?«
    »Chip Hardesty hat in seinem neuen Haus ein Arbeitszimmer, das er nicht benutzt. Er sagt, ich kann es haben, bis …«
    »Herrgott, Brian!« Mittlerweile liefen ihr die Tränen herunter. »Wir lieben uns doch, oder etwa nicht?«
    Er weigerte sich, sie anzusehen. »Es gehört noch mehr dazu, mein Schatz.«
    »Was denn?«
    »Was weiß ich. Ein Grund. Ein Sinn.«
    »Dann suchen wir dir eben einen Job.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich such mir einen Job.«
    »Klar. Na sicher. Aber das kannst du auch hier.«
    »Ähm … Verzeihung«, mischte sich eine verlegene Stimme ein. Sie schauten zum Gartentor und sahen einen hochgewachsenen, sommersprossigen jungen Mann. »Mary Ann?«
    Sie stand auf und wischte sich über die Augen. »Ja?«
    Er kam auf sie zu. Er war Anfang zwanzig, doch sein provinzielles Benehmen, die abstehenden Ohren und die Segeltuchtasche, die über der Schulter hing, weckten augenblicklich die Erinnerung an den linkischen Knaben, der vor fünfzehn Jahren in Cleveland ihr Zeitungsjunge gewesen war.
    Nur daß er diesmal nicht die Zeitung brachte.
    Dieses Mal brachte er ihr ein Baby.

Das Geheimnis der Familie Hawkins
    Als erstes fielen Michael die Hyazinthen im Garten auf, ein halbes Dutzend aufragende Stengel mit pink angehauchten Blütenkelchen, die fröhlich strahlten, obwohl unter ihnen die Asche eines Toten ruhte. Er betrachtete sie mit einem Lächeln, genoß das Gefühl, wieder zu Hause zu sein, und freute sich
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