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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
Autoren: Armistead Maupin
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auf seine Familie.
    Mrs. Madrigal sah ihn durchs Küchenfenster und begrüßte ihn mit einem Juchzer. Er stellte seinen Koffer ab und winkte sie zu sich heraus. Sekunden später kam sie herausgestürzt und trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Mein lieber Junge«, sagte sie gerührt und drückte ihn herzhaft an sich. »Wir haben dich so vermißt.«
    »Danke für die Hyazinthen«, sagte er.
    »Was? Oh … gern geschehen. Du siehst prima aus, mein Lieber. Du hast ein bißchen zugenommen.«
    »Sagen Sie doch nicht so was.«
    »Na … ach, sei doch nicht so typisch Mann. Deine Schönheit ist ja noch intakt. Komm, laß uns den Koffer reinbringen. Bestimmt wollen Mary Ann und Brian dich gleich sehen.« Sie schnappte sich seinen Koffer und ging mit energischen Schritten voran.
    »Gut«, sagte Michael, »dann ist er also wieder da.«
    Sie drückte mit der Schulter die Haustür auf und sah ihn erstaunt an. »Du hast davon gewußt?«
    Er nickte. »Wir haben telefoniert. Sie war ganz verstört.«
    »Na … jetzt geht’s ihr prächtig.«
    Er griff nach dem Koffer. »Lassen Sie mich das …«
    »Nein, du hast einen langen Flug hinter dir. Wir stellen ihn erst mal in die Diele.« Sie ließ den Koffer plumpsen und stieß ihre Wohnungstür auf. »Und du kommst auf einen ganz kleinen Sherry mit rein.«
    »Prima«, sagte er. »Moment, ich hab was für Sie.« Er ging in die Knie, machte den Koffer auf und tastete in einer Seitentasche herum, bis er den Umschlag fand.
    »Von Mona«, sagte er und gab ihn ihr.
    »Wo, in aller Welt …?«
    »In England«, sagte er und lächelte.
    »Das kann nicht dein Ernst sein!«
    »Doch. Es geht ihr blendend. Sie ist glücklich, und sie möchte, daß Sie sie besuchen.«
    »In England?«
    »Lesen Sie mal den Brief.«
    Mrs. Madrigal machte ein zweifelndes Gesicht und lehnte den Umschlag an ihr Telefon. Er sagte sich, daß Mona doch recht gehabt hatte. Die Vermieterin benahm sich sehr wie ein Vater, wenn es um Mona ging.
    Sie bat ihn hinein und wies auf das Sofa. »Also gut … ein Sherry.« Sie verschwand in der Küche, und er ließ die vertraut-mysteriöse Wohnhöhle auf sich wirken, die verblichenen Samtbezüge, die seidenen Troddeln, die wie Stalaktiten herabhingen. Es tat gut, wieder hier zu sein.
    Sie kam zurück und gab ihm ein rosa Weinglas, randvoll mit Sherry. »Und sie lebt jetzt dort?«
    »Ich sag nix.«
    »Na, verrat mit wenigstens, was sie macht.«
    Er nippte an seinem Sherry und lächelte sie an. »Sie eifert ihrem Vater nach.«
    »Also hör mal, mein Lieber …«
    »Mehr erfahren Sie nicht von mir.«
    Sie zupfte an einer Haarsträhne herum. »Na, dann trink eben deinen Sherry.«
    Er schmunzelte vor sich hin, während er an seinem Glas nippte. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand auf, ging zum Telefon, nahm den Umschlag in die Hand und legte ihn wieder hin. Dann hob sie den Hörer ab und wählte eine Nummer.
    »Was machen Sie?« fragte er.
    »Die Truppen alarmieren.« Sie sprach in die Muschel.
    »Der verlorene Sohn ist wieder da. Ja … ganz recht … genau. Ist gut … ich sag’s ihm.« Sie legte auf und drehte sich zu ihm um. »Man bittet um dein Erscheinen in der Hawkins-Residenz. In genau drei Minuten.« Sie strebte in Richtung Küche.
    »Was warte ich dann …?«
    »Du bleibst da sitzen und trinkst deinen Sherry aus, junger Mann.«
    Er lachte über ihre kleine Revanche. Der Sherry ging ihm runter wie sonnenwarmer Honig. Während Mrs. Madrigal in ihrer Küche herumfuhrwerkte, ließ er sich vom muffigen Aroma des Sofas einlullen und sagte sich, daß er ein echter Glückspilz war.
    Schließlich stand er auf. »Kommen Sie mit rauf!« rief er zu ihr hinein.
    »Nein danke«, war die Antwort. »Ich bin gerade mit einem Lammragout beschäftigt.« Sie lugte um die Ecke. Ihr eckiges Gesicht war gerötet von der Hitze des Herds. »Wir essen heute abend bei mir. Ich hoffe, das paßt dir.«
    »Bestens«, sagte er im Hinausgehen.
    Er trug seinen Koffer die Treppe hinauf und ließ ihn im ersten Stock auf dem Absatz stehen. Im zweiten Stock erwartete ihn Mary Ann vor der Wohnungstür. »Mensch!« rief sie begeistert. »Dickerchen!«
    »Schmier dir’s mit Handkuß in die Haare.«
    Nach eine langen Umarmung bugsierte sie ihn in die Wohnung.
    Er sah sich um. »Ich dachte, Brian ist da.«
    »Setz dich erst mal«, sagte sie.
    Etwas stimmte nicht. Er spürte, wie ihn seine sherrybesäuselte Sicherheit verließ. Das war es, was er am Nachhausekommen nicht leiden konnte –
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