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Stadt unter dem Eis

Titel: Stadt unter dem Eis
Autoren: Thomas Greanias
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Zugangs zu den Archiven des Vatikans.«
    »Zu den Archiven?«, sagte sie erstaunt. Nur zwei oder drei Menschen – alles Männer – kamen in den Genuss dieses Privilegs. Der Papst war bereit, die in Ehren gehaltenen – und verfluchten – Geheimnisse mit ihr zu teilen. »Sie führen mich in Versuchung, Heiliger Vater. Sie locken mich mit Erkenntnis, genau wie die Schlange im Garten Eden.«
    »Ich versichere Ihnen, Schwester Serghetti, das ist keine Versuchung«, sagte der Papst. »Das ist ein Vertrauensbeweis. Ein Geschenk. Und wenn ich Sie wäre, würde ich es annehmen. Mein Nachfolger wird möglicherweise nicht so entgegenkommend sein wie ich.«
    Serena verstand, zögerte aber. Offiziell wieder Braut Christi zu sein würde sie für immer und ewig von Conrad fern halten, und die Möglichkeit, ihre Beziehung wieder aufzunehmen, wäre völlig ausgeschlossen.
    Der Papst schien ihren inneren Konflikt zu spüren. »Sie lieben Doktor Yeats«, sagte er.
    »Ja«, antwortete sie, ohne zu zögern, war aber selbst erschrocken, das Wort aus ihrem Mund zu hören.
    »Dann wissen Sie auch, dass er mehr als je zuvor in Gefahr ist.«
    Serena nickte. Sie hatte es die ganze Zeit, seit sie die Antarktis verlassen hatte, gespürt.
    »Sie werden alle Kräfte des Himmels und der Erde brauchen, um ihn zu beschützen«, sagte der Papst.
    »Conrad zu beschützen? Wovor?«
    »Alles zu seiner Zeit, Schwester Serghetti, alles zu seiner Zeit. Im Augenblick haben wir dringlichere Aufgaben.«
    Was konnte dringlicher sein?, fragte sie sich.
    Der Papst zeigte ihr die Titelseite der International Herald Tribune.
    »›Vier Nonnen wurden von Hindu-Nationalisten in Sri Lanka vergewaltigt und ermordet. Sie hatten Verbindung zur Regierung‹«, las er ihr vor. »Die Gewalttätigkeiten gegen die Moslems haben jetzt wieder auf Christen übergegriffen. Am Morgen werden Sie als Erstes dorthin fliegen und das tun, was Sie am besten können: unsere Sache vor der Weltöffentlichkeit verteidigen.«
    »Aber jetzt ist schon Morgen, Heiliger Vater.«
    »Ja, aber Sie sind sicher müde. Ruhen Sie sich noch ein paar Stunden aus.«
    Serena nickte. Die Belange der realen Welt waren allzu erschütternd. So erschütternd, dass sie selbst die Gedanken an eine vergangene Kultur unter dem Eis verdrängten. Es gab größere Schlachten, die es zu schlagen galt, stellte sie fest, Schlachten gegen Hass, Armut und Krankheit.
    »Ich werde Ihrem Wunsch entsprechen«, sagte sie und überlegte kurz. »Zunächst werde ich nach Sri Lanka fliegen, um die dortigen Gewalttätigkeiten zu dokumentieren. Dann gehe ich nach Washington, wo ich die Angelegenheit vor den amerikanischen Kongress bringen werde, bevor ich mich an die Vereinten Nationen wende.«
    »Ausgezeichnet.«
    Sie ließ sich von Benito in ihre Wohnung fahren, von wo aus sie über die Piazza del Popolo blicken konnte. Es war ein einfaches Zimmer mit nur einem Bett und einem Nachttisch. Sie fühlte sich in ihrer eigenen Welt, in der sie damals ihr Gelübde abgelegt hatte, wohler.
    Neben der Verandatür, die einen blassen Mond einrahmte, hing ein Kruzifix an der Wand. Im frühen Morgenlicht kniete sie sich vor das Kruzifix. Als sie zu der Christusfigur aufsah, gestand sie Gott all ihre Arroganz: dass sie geglaubt hatte, mehr über Leiden und Verlust zu wissen als Er, und sie dankte ihm, dass er durch Jesus die Sünden der Menschheit gesühnt hatte.
    Dann trat sie auf den Balkon hinaus und blickte über die Piazza auf den ägyptischen Obelisken, der vor 2.000 Jahren von Kaiser Augustus nach Rom gebracht worden war.
    Das Denkmal erinnerte sie an einen anderen Obelisken, an einen, der in der Antarktis in einer Pyramide zwei Meilen unter dem Eis verborgen war. Unwillkürlich fragte sie sich: War es wirklich die erlösende Kraft Jesu am Kreuz gewesen, die den Fluch der alten ›Gottessöhne‹ gebrochen und die Welt gerettet hatte? Oder war es der selbstlose Akt eines Gottlosen wie Conrad gewesen, der seinen eitlen Ehrgeiz aufgegeben und den Obelisken in die Sternenkammer zurückgebracht hatte? Sie gelangte schließlich zu dem Schluss, dass der letzte Schritt ohne den ersten nicht hätte geschehen können.
    Wie sie so dem fröhlichen Verkehrslärm der Stadt, die niemals zur Ruhe kam, lauschte, griff sie in ihre Hosentasche und zog eine Haarlocke heraus, die sie ihm abgeschnitten hatte. Irgendwann einmal, wenn sie sich davon trennen konnte, würde sie sie im Labor analysieren lassen.
    Einstweilen betete sie für die unsterbliche
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