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Stadt der Lügen

Stadt der Lügen

Titel: Stadt der Lügen
Autoren: David Ambrose
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und braunen Möbeln ausgestatteten, bescheidenen Wohnzimmer wandte sie sich ihm zu. Alles in diesem Zimmer war gut und praktisch, mit Ausnahme der allgegenwärtigen Ikonen und Heiligenbilder. Scott hasste die Wohnung. Sie engte seine Seele sein.
    »Es muss aber doch etwas vorgefallen sein, dass du hier so unangemeldet hereinschneist.« Sie hielt die Hände vor dem Körper. Die Finger der einen umfassten das Gelenk der anderen Hand. Die Haltung wirkte gleichzeitig herausfordernd und hoheitsvoll. Scott legte ab.
    »Ich habe dich noch nie mit Hut gesehen«, fügte sie missbilligend hinzu, als ob ein Hut ein wenig vertrauenswürdiger Gegenstand sei.
    Scott zuckte die Schultern. »Hüte sind gerade wieder in Mode.«
    Dazu sagte sie nichts. Mode war etwas, von dem sie nichts verstand. Nichts verstehen wollte. Sie ließ sich in ihrem Sessel neben dem Bücherregal nieder; für Scott war dies das Zeichen, auf dem Sofa gegenüber Platz zu nehmen. Die beiden Sitzmöbel waren mit einem verblichenen grünlichen Stoff mit roten Tupfen bezogen, die sich bei näherem Hinsehen als Rosen entpuppten. Die merkwürdige Perspektive war für Scott ein weiteres Anzeichen der zunehmenden Verschrobenheit seiner Mutter; sie hatte ihre klar definierte Sichtweise verloren, genau wie jedes Gespür für das, was war und was nicht war. Wenn er nicht bald die Wahrheit aus ihr herausbekam, würde es zu spät sein.
    »Ich komme am besten sofort auf den Punkt, Mom«, sagte er nach einigen Höflichkeitsfloskeln. »Ich glaube nicht, dass Ben Kanter mein Vater ist.«
    Zunächst schwieg sie. »Darf ich fragen, wie du darauf kommst?«, entgegnete sie schließlich mit nur mühsam zurückgehaltener Entrüstung.
    Er erklärte es ihr. Wieder blieb sie stumm. Irgendwann sagte sie leise mit im Schoß verkrampften Fingern und gesenktem Blick: »Es hat schon merkwürdigere Zufälle gegeben.«
    Scott versuchte gar nicht erst zu widersprechen. »Bitte Mom«, flehte er, »du musst mir die Wahrheit sagen. Ist Greg Conrad mein Vater?«
    Immer noch blickte sie auf ihre verschränkten Hände hinab. »Darüber möchte ich nicht sprechen.«
    »Ich muss es aber wissen, Mom.«
    Erneut schwieg sie eine Weile. Als sie antwortete, klang ihre Stimme merkwürdig entschlossen und beinahe fatalistisch. Scott hatte sie noch niemals so gehört. »Welchen Unterschied würde das wohl letzten Endes machen?«
    Er lehnte sich zurück wie ein Mensch, der im Zeitlupentempo auf einen heftigen Schlag reagiert. »Welchen Unterschied? Welchen Unterschied?«, echote er. »Ich wäre Kays Halbbruder. Es wäre … es wäre Inzest!«
    Sie wischte eine Staubfluse von ihrem über die Knie gespannten Rock. »Dieses Wort scheint es dir angetan zu haben«, sagte sie.
    »Wie meinst du das? Was soll das heißen?«
    »Sei nicht so naiv«, gab sie zurück. »Du bist jetzt alt genug, um darüber zu reden. Ich meine diese Fantasien, die du früher hattest – bis ich dich endlich überzeugen konnte, dass es nichts als Hirngespinste waren.«
    Er überlegte, ob er dieses Thema vertiefen sollte, entschied sich aber dagegen. Es hatte nichts mit seinem Problem zu tun.
    »Warum akzeptierst du nicht, dass ich die Wahrheit kenne, Mom?«
    Mit halb abgewandtem Kopf sah sie ihn aus den Augenwinkeln an. »Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um aus dir einen selbstständigen, eigenverantwortlichen Mann zu machen«, sagte sie. »Nie war ich eine besitzergreifende Mutter. Ich habe mir sogar gewünscht, dass du junge Leute in deinem Alter kennen lernst. Auch junge Frauen. Du hast es mir zu verdanken, dass du Kay getroffen hast.«
    »Weil du unbedingt wolltest, dass ich sie kennen lerne«, antwortete Scott. In seine Stimme mischte sich eine Spur weinerlicher Selbstgerechtigkeit. Er merkte es und beherrschte sich sofort. »Immer geschieht das, was du willst.«
    »Ich möchte immer nur dein Bestes. Ich wünsche mir für dich das, was mir vorenthalten wurde. Was ist denn daran so falsch?«
    Scott war in sich zusammengesunken. Sein Rücken krümmte sich. In gewisser Weise stimmte das, was sie sagte. Es war tatsächlich gar nicht so falsch. Immer hatte sie sich bestimmte Dinge für ihn gewünscht, und er hatte es immer akzeptiert. Inzwischen war es ein wenig zu spät, sich darüber zu beschweren.
    »Gut, Mom«, sagte er schließlich, »dann lass uns einfach praktisch denken, einverstanden?« Sie wandte nichts dagegen ein und starrte weiter auf ihre Hände. Er fuhr fort. »Die Familie wird dich bald treffen wollen, Mom.
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