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Stadt der Lügen

Stadt der Lügen

Titel: Stadt der Lügen
Autoren: David Ambrose
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vermutete, dass jeder Mensch unterschiedlich reagierte. Die Welt wäre auch wirklich ziemlich langweilig, wenn alle Menschen gleich wären.
    Jedenfalls war es beruhigend zu wissen, dass auch andere Kinder in ihren Köpfen solche unheimlichen Beziehungen zu ihren Eltern hatten. Merkwürdig, was sich in einem Kopf so abspielen konnte. Nachdem er das Buch gelesen hatte, machte er sich keine Sorgen mehr und ließ die Träume geschehen, wann immer sie ihn überkamen.
    Seine Mom war eine tolle Frau. Sie sah auch toll aus. Zumindest früher. Vielleicht lag es daran, dass seine Fantasien so stark waren. Manchmal erzählte sie von ihrem Leben. Er hätte ihr stundenlang zuhören können. Ihr Leben war in vieler Hinsicht tragisch gewesen, aber sie hatte es durchlebt wie ein Star.
    Beinahe wäre sie tatsächlich ein Star geworden, hätte nicht die Familie Conrad, die sie für nicht gut genug für ihren Sohn hielt, sie fälschlicherweise des Mordes anklagen lassen und damit ihr Leben ruiniert. Verdammt, diese Kerle verdienten wirklich das, was auf sie zukommen würde! Er wusste zwar noch nicht genau, was es war, aber seine Mom wusste es und wollte ihn informieren, wenn es so weit war.
    Sobald diese Kay Conrad aufwachte und er aufstehen konnte, würde er seine Mom anrufen und ihr von seinem Triumph erzählen.
    Nein, von ihrer beider Triumph. Er hatte genau das getan, was seine Mom von ihm verlangte. Jeden Schritt hatte sie mit ihm geplant und ständig mit ihm geübt, was er tun und sagen sollte. Ohne sie hätte er es nie geschafft.
     
     
    In Scotts frühester Erinnerung wurde er hoch in die Luft geworfen und schaukelte über dem Kopf eines entsetzlichen, einäugigen Monsters, dessen halbes Gehirn aus einem papierdünnen Schädel quoll. Natürlich wusste er damals nicht, dass er sich in den Studios der Cinecittà in Rom befand. Auf sein Schreien hin kam seine Mutter vom Set gerannt, wo sie den Film drehte, von dem sie sich ein Comeback in Europa erwartete. Noch immer erfasste ihn ein andächtiger Schauder, wenn er daran dachte, wie sie ihn in Sicherheit gebracht und das Monster mit einer Schimpftirade vertrieben hatte.
    Merkwürdigerweise hatte er nicht die geringste Erinnerung an den zweiten Comeback-Film in Deutschland, obwohl er während der gesamten Drehzeit bei ihr war. Das Nächste, woran er sich deutlich erinnerte, war die große Wohnung in Rom an einer belebten, eleganten Straße. Jeden Tag kam eine Haushaltshilfe. Manchmal kam auch ein Mann zu Besuch – es war nicht immer derselbe Mann, obwohl einer, ein etwas älterer, ziemlich regelmäßig kam und ihm manchmal sogar Spielsachen oder Süßigkeiten mitbrachte. Eines Tages gab es einen lauten Streit zwischen dem älteren Mann und Scotts Mutter. Der Mann ging und knallte die Tür hinter sich zu. Danach kam er nie mehr wieder.
    In der Folge verbrachten Scott und seine Mutter viel Zeit zusammen in der Wohnung. Seine Mutter ging kaum aus. Das Hausmädchen kam nicht mehr, und Scott merkte, dass seine Mutter manchmal merkwürdige Launen hatte: Sie weinte und lachte abwechselnd. Manchmal lag sie auch stundenlang still, als ob sie schliefe, aber ihre Augen waren offen.
    Sie zogen aus der großen Wohnung in der eleganten, belebten Straße in eine kleinere Wohnung in einer Straße, die nur noch belebt war. Andere Männer kamen zu Besuch, aber meistens endete es mit Streit zwischen ihnen und seiner Mutter. Er wurde in eine Schule im gleichen Viertel geschickt und sprach bald fließend Italienisch.
    Eines Tages verkündete seine Mutter, dass sie nach Amerika zurückkehren würden. Scott war noch nie in den Staaten gewesen, und daher bedeutete ihm die Aussicht auf die Reise nichts, aber seine Mutter schien merklich glücklicher zu werden. Während der ungefähr zweiwöchigen Reisevorbereitungen erzählte sie ihm zum ersten Mal von einer reichen und berühmten Familie namens Conrad, die ihr übel mitgespielt hatte und pflanzte die Idee in seinen Kopf, das von der Familie zurückzufordern, was rechtmäßig seiner Mutter gehörte.
    Außerdem bereitete sie ihn darauf vor, dass sie einen neuen Namen bekommen würden: nicht mehr Prentice, sondern Traynor. Niemand sollte wissen, dass sie Schauspielerin gewesen war. Sie spielte ein Spiel mit ihm, bei dem sie plötzlich fragte: »Wie heißt du? Wie heiße ich?«, bis er, ohne nachzudenken, antworten konnte: »Scott Traynor, Ellen Traynor.«
    Sie erfanden eine lange Geschichte darüber, wer sie waren und wie sie gelebt hatte. Sein Vater war
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