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Stadt der Fremden

Titel: Stadt der Fremden
Autoren: China Miéville
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den Menschen.
    Hier ist eine andere Erinnerung: Wir pflegten das Eintauchen in das Immer zu spielen. Dabei liefen wir hintereinanderher, ein wenig geduckt in einer »Ich bin unsichtbar«-Haltung, riefen dann: »Tauch auf!«, und packten einander. Wir wussten sehr wenig über die Immer-Eintauchung, und jene Schauspielerei war, wie ich lernen würde, nicht viel ungenauer als die meisten erwachsenen Beschreibungen des Immer.
    In unregelmäßigen Abständen trafen in meiner Jugend Flapos ein, die in den Zeiten zwischen der Ankunft von Schiffen eingeplant wurden. Hierbei handelte es sich um unbemannte Container, voll mit Kleinteilen und von ’ware gesteuert. Viele von ihnen gingen unterwegs verloren und wurden, wie ich später lernte, zu einer ständigen Bedrohung, indem sie für alle Zeiten in unterschiedlichen korrodierten Formen im Immer trieben, für das sie gebaut wordenwaren. Die meisten aber erreichten uns. Als ich älter wurde, bekam meine Aufregung bei diesen Ankünften einen Anstrich von Frustration: Ich war neidisch auf die Flapos, bis ich begriff, dass ich tatsächlich ins Außen rauskommen würde. Sie wurden zu Fingerzeigen, zu kleinen geflüsterten Verheißungen.
    Als ich viereinhalb Jahre alt war, sah ich einen Zug, der eine gerade gelandete Flapo durch Botschaftsstadt beförderte. Wie die meisten Kinder und viele der Erwachsenen wollte ich stets mit eigenen Augen ihre Ankunft miterleben. Es gab eine kleine Bande von uns, die sich dort im Kinderhort gebildet hatte. Sie wurde von Mama Quiller – ich glaube, sie war es – überwacht und ein wenig in die Schranken gewiesen, und auf unsere viel jüngeren Schichtfreunde gaben wir selbst Acht. Wir konnten uns im Großen und Ganzen ungestört weit über die Gitter lehnen und übereinander sowie über die Ankunft schwatzen.
    Wie immer wurde die Flapo auf einen riesigen Flachwagen gelegt, und der bio-fabrizierte Bewegungsapparat, der sie über den breiten Strang des für den Frachtverkehr bestimmten Schienennetzes von Botschaftsstadt beförderte, wuchtete sich hoch und streckte zeitweilig muskuläre Beine aus, um sich mitsamt seinem Antrieb anzuspannen. Die Flapo auf seinem Rücken war größer als die Halle meines Kinderhorts: ein überaus wirkliches, wie eine abgestumpfte Patrone geformtes Behältnis, das sich durch den leichten Regen bewegte. Seine Oberfläche schimmerte vom Saft , der in Fäden aus der kristallenen Abschirmung aufstieg und im Nichts entschwand. Ich weiß heute, dass die zuständigen Behörden verantwortungslos handelten. Sie hatten nicht abgewartet, bis die letzten Rückstände des Immer, die an der Oberfläche hafteten, sich verflüchtigten. Dies war nicht die erste Flapo, die sie noch vom Dunst ihrer Reise umhüllt hereingebracht hatten.
    Ich schaute zu, wie ein ganzes Gebäude geschleppt wurde. So jedenfalls sah es aus. Ein großer Zug, der vor Anstrengung keuchte und dessen Enginarii ihn durch einen Einschnitt drängten. Der riesige Frachtraum wurde bergaufwärts zum Schloss der Botschafter gezogen, umringt von Botschaftsstädtern, die jubelten und mit Bändern winkten. Er hatte eine Eskorte von Zentauren, von Männern und Frauen, die an der Vorderseite von vierbeinigen, bio-fabrizierten Beförderungsmitteln saßen. Einige der wenigen Außerirdischen der Stadt standen bei ihren Terre-Freunden: Kedis hoben ihre Krausen, die in bunten Farben leuchteten, Shur’asi und Pannegetch erzeugten ihre Töne. Es gab auch Automa in der Menge: ein paar schwankende Kästen, einige mit genug überzeugender Turingware, sodass sie wie begeisterte Teilnehmer wirkten.
    In dem unbemannten Gefährt befand sich Frachtgut: Geschenke für uns von Dagostin und vielleicht von Planeten, die noch weiter entfernt lagen, Importdinge, auf die wir ganz versessen waren – Buchware und Bücher, Nachrichtenware, seltene Lebensmittel, Tech und Briefe. Das Fahrzeug würde man ebenfalls ausschlachten. Ich selbst hatte jährlich im Gegenzug Dinge hinausgeschickt, wenn unsere eigenen, viel kleineren Flapos ausgesandt wurden. Sie enthielten robuste Güter und all die Unterlagen, die zum amtlichen Schriftverkehr gehörten. (Alles wurde vor der Absendung sorgfältig kopiert. Niemand würde davon ausgehen, dass irgendeine Flapo ihren Bestimmungsort erreichte.) Doch ein wenig Platz war Kindern vorbehalten, um mit Schulen im Außen zu korrespondieren und Brieffreundschaften zu pflegen.
    »Flapo, Flapo! Flaschenpost!«, sang Mama Berwick, während sie unsere Briefe einsammelte. Liebe
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