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Stadt der Fremden

Titel: Stadt der Fremden
Autoren: China Miéville
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nicht Herbst gewesen war, und auch keine andere Jahreszeit, die er hätte kennen können.
    Ich ging durch den Rauch, der von den Tellern mit anregendem Harz aufstieg, und verabschiedete mich von allen. Einige wenige Ausländer, die Aufträge erledigt hatten, verließen gerade die Feier. Mit ihnen brach eine winzige Zahl von Einheimischen auf, die eine Ausreisegenehmigung beantragt hatten und denen sie auch gewährt worden war.
    »Schätzchen, bist du wehmütig?«, fragte Kayliegh. Ich war es nicht. »Wir können morgen noch miteinander reden, und möglicherweise sogar am Tag darauf. Und du kannst …«
    Doch sie wusste, es würde so schwierig werden, die Verbindung zu halten, dass der Kontakt schließlich abbrechen würde. Wir umarmten uns, bis Kayliegh zumindest ein paar Tränen in den Augen hatte und zugleich auch lachte.
    »Gerade du …«, sagte sie, »du musst doch verstehen, warum ich fortgehe.«
    Und ich erwiderte: »Ich weiß, Dummchen, und ich bin so neidisch!«
    Ich konnte sehen, wie sie dachte: Du hast es dir selbst so ausgesucht. Und das stimmte. Ich war selbst fest entschlossen gewesen, wieder aufzubrechen, bis vor einem halben Jahr. Bis die letzte Flapo heruntergekommen war mit der schockierenden Nachricht darüber, was – wer! – sich ankündigte. Selbst dann hatte ich mir noch eingeredet, ich würde an meinem Plan festhalten und in das Außen reisen, sobald der nächste Transport einträfe. Aber es war keine wirkliche Offenbarung für mich gewesen, als das Beiboot letztendlich über den Himmel flog und dann heulend zu uns herabstieg. Mir war bewusst geworden, dass ich bleiben würde. Scile, mein Gatte, hatte es wahrscheinlich noch vor mir geahnt.
    »Wann werden sie hier sein?«, erkundigte sich der Pilot. Er meinte die Gastgeber.
    »Bald«, antwortete ich, obwohl ich keine Ahnung hatte. Es waren nicht die Gastgeber, die ich zu sehen wünschte.
    Botschafter waren in die Halle getreten. Die Leute kamen ihnen nahe, aber niemand bedrängte sie. Stets gab es um sie herum genug Platz, einen Burggraben des Respekts. Draußen schlug der Regen gegen die Fenster. Keiner meiner Freunde und keine der üblichen Quellen hatten mir verraten können, was hinter verschlossenen Türen vorgegangen war. Nur die Spitzenbürokraten und ihre Berater hatten unsere wichtigsten und umstrittensten Neuankömmlinge getroffen, und ich gehörte schwerlich dazu.
    Die Menschen blickten zum Eingang. Ich lächelte den Piloten an. Noch mehr Botschafter traten ein. Ich lächelte auch sie an, bis sie mich zur Kenntnis nahmen.
    Bald würden die Gastgeber eintreffen, ebenso wie die letzten der neuen Ankömmlinge. Der Kapitän und der Rest der Schiffsbesatzung, die Attachés, die Konsuln und die Forscher, vielleicht einige späte Einwanderer – und der Grund für all das: der unmögliche neue Botschafter.

Einleitung

DIE IMMER-EINTAUCHERIN

0.1
    Während unserer Kindheit in Botschaftsstadt spielten wir mit Münzen und münzgroßen, sichelförmigen Reststücken aus einer Werkstatt ein Spiel. Wir taten dies stets am selben Ort, bei einem ganz bestimmten Haus jenseits des Rialto. Es handelte sich um eine steil abfallende Seitenstraße, gesäumt von Mietshäusern, wo Werbeanzeigen unter dem Efeu ihre Farbe veränderten. Wir spielten im efeugedämpften Licht dieser alten Bildschirme, an einer Wand, die wir speziell diesem Spiel gewidmet hatten. Ich erinnere mich, wie ich mit einer geschickten Handbewegung ein schweres Zwei-Heller-Stück auf der Kante kreiseln ließ und »Schwinge fein, neige dich, Schweinerüssel, Sonnenlicht« skandierte, bis es ins Schwanken geriet und umfiel. Die Seite, die oben lag, und das Wort, das ich erreicht hatte, wenn die Münze zum Stillstand kam, wurden miteinander kombiniert und ergaben zusammen irgendeine Belohnung oder ein Pfand.
    Ganz deutlich sehe ich mich selbst, wie ich im nassen Frühjahr und im Sommer mit einem Zwei-Heller-Stück in meiner Hand dastand und mit anderen Mädchen und Jungs über die jeweils richtige Interpretation stritt. Wir hätten niemals an einer anderen Stelle gespielt, obwohl jenes Haus uns beunruhigen konnte, denn es gab Geschichten über das Gebäude und über seinen Bewohner.
    Wie alle Kinder entwickelten wir mit großer Umsicht einen eindringlichen und eigenwilligen Plan von unserer Heimatstadt. Auf dem Markt waren wir weniger an den Verkaufsständen interessiert, sondern mehr an einem hohen Regalfach, das durch verlorene Ziegelsteine in der Wand entstanden war und das wir immer
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