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Spurschaden

Spurschaden

Titel: Spurschaden
Autoren: Simon Halo
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nochmals genau an. Vielleicht fällt Ihnen etwas auf, das uns weiterhelfen kann. Ich meine die Bilder mit dem aufgedruckten Timecode 2:21 Uhr … 2:21 Uhr und folgend.« Er atmete schwer. »Das mit dem elektronischen Zeitschloss im Ein- und Ausgangsbereich ist schon bitter.«
    Marie seufzte auf. »Eigentlich hat dieses Teil die Tür eher öfters als gewünscht verschlossen.«
    »Ja, das wurde mir auch gesagt.« Schlund schob der Novizin erneut den kleineren Stapel großformatiger Fotos zu, wartete kurz, bis sie diesen mit zitternden Händen auf ihren Schoß legte und gab ihr zu verstehen, dass er sie jetzt eine Weile ungestört lassen würde. »Ich schau mal nach den Kollegen. Lassen Sie sich bitte Zeit.« Dann erhob er sich hinter dem majestätischen Tisch, der das Bürozimmer von Pater Johann weitflächig ausfüllte, ging zur Tür – war weg.
    Marie starrte noch lange in die Richtung, in der der breitschultrige Kommissar so hastig verschwunden war. Sein Nachname kam ihr irgendwie bekannt vor. An seine Gesichtszüge konnte sie sich jedoch nicht wirklich erinnern; sie hatte ihn zu keinem Zeitpunkt so richtig angeschaut. Nur dass er jung war, sehr jung, das war ihr aufgefallen; und dass er eine große Statur hatte – geradezu riesig, aber keineswegs bedrohlich.
    Wie in Trance saß sie nun da, auf den Tag genau 20 Jahre alt. Vor ihr der rustikale Schreibtisch – hinter ihr Stunden voller Ungewissheit und Qual. Das Schicksal hatte erneut zugeschlagen. Das Schicksal? Nein, der Teufel. Und heute hatte er in ihrem unmittelbaren Umfeld gewütet, hatte sie so unendlich mehr verletzt als beim ersten Mal. Die stark vernarbte Wunde in ihrer Seele war mit unbeschreiblicher Brutalität aufgerissen worden und ließ Marie langsam innerlich verbluten.
    Schuld. Ja, sie machte sich Vorwürfe. Die Sorgen des Kommissars waren berechtigt. Sie fühlte sich verantwortlich für die Kinder; vor allem für diese Zwillinge in Engelsgestalt. Hätte sie es verhindern können? Nein. Der Teufel hatte völlig überraschend zugepackt. Gegen dessen ausgeklügelte Raffinessen hatten selbst die intelligentesten Kinder keine Chance. Sie mussten in einen Hinterhalt gelockt worden sein.
    Während Marie mit der linken Hand den Fotodrucken auf ihrem Schoß zusätzlichen Halt bot, fuhr sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf dem glatten Papier den Konturen der beiden kleineren Gestalten nach.
    »Was wolltet ihr um diese Uhrzeit da draußen? Was habt ihr euch nur dabei gedacht?« Marie sah sich die Bilder immer und immer wieder an. Fast alle zeigten sie zwei Kinder, die sich an der Hand hielten. Unverkennbar die zu Zöpfen verknoteten, langen schwarzen Haare; unverwechselbar die Zwillinge. Sie trugen die gleiche Wintermontur wie gestern; einzig die Strickmützen kamen hinzu. Komischerweise war an der Stelle – dort, wo mindestens eine der Kameras positionsbedingt die Gesichter hätte deutlich aufnehmen müssen – nur ein seltsames Leuchten zu erkennen. So, als wäre der menschliche Kopf durch eine im klarsten Weiß erstrahlende Sonnenkugel ersetzt worden.
    Warum auch die anderen Aufnahmen teils hell überstrahlt waren, konnte sich Marie nur durch die Taschenlampe erklären, die die Kinder offensichtlich wieder bei sich trugen. Das hatte sie dem Kommissar auch gesagt. Allerdings schien dieser das nicht so zu sehen; warum auch immer. Eine andere Erklärung für dieses Phänomen hatte er jedoch nicht.
    Es folgten einige Außenaufnahmen. Man sah, wie die Kinder sich entfernten; wie ihre kleinen Stiefel tiefe Spuren im Schnee hinterließen.
    Und dann war da dieser eine Fotoausdruck; dieser nachträglich bearbeitete, stark vergrößerte Bildausschnitt. Das Bild, das erneut Maries Magen sich verkrampfen ließ. Das Bild, das sie bereits vorhin zutiefst verunsichert hatte und als einziges eines der Zwillingsgesichter deutlich erkennen ließ. Das Bild, das sich in ihre Netzhaut regelrecht eingebrannt hatte. »Mein Gott … sie schaut einem direkt in die Augen. Esther? Silke? Warum drehst du dich nochmal um? Wem winkst du da zu?«

6
    Marie faltete das Stofftaschentuch so, dass eine letzte trockene Stelle zur Verfügung stand. Langsam tupfte sie damit die Gegend rund um ihre Augen ab. Seitdem sie damals dem Teufel begegnet war, gab es immer wieder diese Weinanfälle. Nie in der Öffentlichkeit – meist vor dem Einschlafen oder mitten in der Nacht, nach den gewohnten Albträumen. Jetzt war es die Unsicherheit, die ihren Körper unkontrollierbar machte.
    Wo
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