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Spurschaden

Spurschaden

Titel: Spurschaden
Autoren: Simon Halo
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reinigen konnte, hatte nie jemand erfahren – das Seniorenheim beherbergte nun mal keine Männer.
    Seit dieser Makel an ihr haftete, diese nie wieder vollkommen reine rechte Hand, schüttelte sie zwar auch weiterhin Hände, allerdings gab es da zwei Varianten: Bei fremden oder unsympathischen Menschen konnte ihr Händedruck dem eines kräftigen Mannes mindestens ebenbürtig sein. Davon zu unterscheiden, die zweite Variante: War Marie das Gegenüber bekannt oder sympathisch, legte sie ihre Hand ganz ohne Druck in die ihr entgegengestreckte; nahezu zärtlich, gefühlvoll. Eine Art, von der man bei einem Mann gesagt hätte: was für ein Softie!
    Warum das so war, ließ sich leicht erklären. Ihre unreine Hand sollte die ihr freundlich Gesinnter nicht unnötig berühren. Bei all den anderen spielte es keine Rolle. Da legte Marie es geradezu darauf an, betont und fest zuzudrücken, diesen unsichtbaren Schmutz weiterzugeben. Es machte ihr richtig Spaß, wenn ihr Gegenüber diesen fest umschließenden Händedruck als etwas Besonderes auffasste, die enge Berührung regelrecht genoss. In Gedanken dachte sie dagegen nur an das eine: Du armes Schwein. Du hast das Ding jetzt auch in der Hand gehabt!

2
    Das Internat »Die Schule vom Heiligen Georg« stand unter kirchlicher Trägerschaft und die kräftigen Klostermauern schützten vor ungebetenen Besuchern. Auch der hohe Berg, auf dem es stand, machte es seit jeher zu einem ganz besonderen Platz. Was die alten Steine allerdings nicht abhalten konnten, das war die Informationsflut der neuen Onlinewelt. Weit oberhalb des in Stein gemeißelten Heiligen Georg auf seinem Pferd, der Lanze und dem Drachen, befand sich eine der modernsten Kommunikationsanlagen. Da die Umbauarbeiten erheblich mehr Geld verschlungen hatten als ursprünglich geplant, war das finanzielle Angebot eines großen Handyproviders gerne angenommen worden.
    Geografisch optimal gelegen, ragte der riesige Antennenmast mit seinen Hochleistungs-Sende- und Empfangseinheiten aus der Spitze des Klosterturms. Über ihn erfolgte nicht nur die sprachliche Verbindung zur Außenwelt. Auch die in den letzten Monaten immer wieder auftauchenden Schreckensmeldungen von misshandelten Kindern – gerade in kirchlich geleiteten Schulen – nutzten die moderne Technik als ihren Träger. Und so gelangte die ansteigende Wut der breiten Gesellschaft bis hierher, in diese weit entlegene Region; dank der fliegenden Bits und Bytes des World Wide Web. Hier, hinter den alten Mauern, schenkte man den digitalen Schlagzeilen durchaus erhöhte Aufmerksamkeit.
    Vor wenigen Wochen war das Internat in Betrieb genommen worden und die neuen Bewohner lebten sich gerade erst ein. Besonders für die Kinder war das eine schöne Zeit. Jeden Tag gab es Neues zu entdecken. Eine Unterkunft, die eher einer Burg glich. Ein Namenspatron, der als Drachentöter in die Geschichte eingegangen war – das sorgte für Spannung und Faszination; auch bei den Erwachsenen.
    Dass ausgerechnet morgen eine erschreckend neue Zeitrechnung beginnen sollte, nein, das konnte heute noch niemand wissen.
    Maries Zimmer lag im obersten Stockwerk. Versunken in Gedanken schaute sie durch das runde Guckloch. Geradezu winzig erschienen diese Fenster, auch wenn sie neu waren, hatte doch das Gesamtkonzept des Mauerwerks keine größere Nutzfläche bieten können. So drückte die Nasenspitze der jungen Novizin leicht gegen das kühle Glas, und ihre müden Augen folgten den unzähligen Schneeflocken, die im Innenhof um die Wette tanzten; dort unten, im schwachen Schein der Laterne.
    Auf der anderen Seite lag der unbewohnte Teil des Internats. Man wollte noch abwarten, zunächst beobachten, wie sich die überschaubare Anzahl der jetzigen Bewohner einleben würde. Ein Feldversuch, den man nach außen hin so nicht nennen wollte.
    Für die Öffentlichkeit gab es da nur diesen unscheinbaren Artikel in einer kleinen Tageszeitung: wieder ein neues Waisenhaus. Weitere Einzelheiten wurden nicht erwähnt. Nur wenige Erwachsene, die hinter den Klostermauern lebten und arbeiteten, waren eingeweiht – Marie gehörte nicht dazu.
    Auf den ersten Blick war das Geheimnis kein großes: Die zwölf Kinder waren Waisen, zwischen sechs und neun Jahre alt, und hatten ihre leiblichen Eltern nie kennengelernt. Bereits als Kleinkinder waren sie in die Obhut von Pflegeeltern gegeben worden oder in Heimen gelandet. Das, was aber diese Kinder nun in der »Schule vom Heiligen Georg« zusätzlich miteinander verband, war
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